In der Nacht vom 9. zum 10. November verwüsteten und plünderten nationalsozialistische Schlägertrupps jüdische Geschäfte, brannten Synagogen nieder und ermordeten über 1000 Jüdinnen und Juden. Zehntausende Menschen wurden verhaftet und verschleppt. Mit den sog. Reichspogromen begann die gezielte Verfolgung und Vernichtung jüdischen Lebens im Nationalsozialismus.
Heute soll das Grundgesetz ein bewusster Gegenentwurf zur Diktatur sein. Zum Gedenken an den 9. November wollen wir deshalb Grundrechte vorstellen, die auf die Erfahrungen der Jahre 1933 bis 1945 reagieren.
Schutz vor Entmenschlichung
An der Spitze des Grundgesetzes, im ersten Absatz von Artikel 1 steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Im Mittelpunkt unseres Zusammenlebens steht die Achtung des Menschen und nicht ein bestimmtes Volk, Land oder Weltbild wie im Nationalsozialismus. Jeder Mensch hat einen Eigenwert, den er sich nicht erst durch bestimmte Leistungen oder Eigenschaften verdienen muss. Damit stellt sich das Grundgesetz gleich zu Beginn gegen die Entmenschlichung, der vor allem jüdische Menschen, aber auch andere Minderheiten zwischen 1933 und 1945 ausgesetzt waren.
Schutz vor Diskriminierung
Besonders deutlich reagiert auch Artikel 3 Absatz 3 auf die Zeit des Nationalsozialismus. Dort sind verschiedene Merkmale genannt, aufgrund derer Menschen nicht diskriminiert werden dürfen, zum Beispiel Geschlecht, Herkunft, Glaube oder Behinderung. Im Laufe der Geschichte wurden alle diese Merkmale dazu benutzt, Menschen zu diskriminieren. Jüdische Menschen wurden im Nationalsozialismus aufgrund ihrer „Rasse“ verfolgt – ein ebenfalls in Artikel 3 Absatz 3 genanntes Merkmal, das heute umstritten ist: Menschenrassen sind einerseits eine rassistische Erfindung. Andererseits wurden und werden Menschen täglich auf der Grundlage genau dieser rassistischen Erfindung diskriminiert. Diskutiert wird außerdem immer wieder die Aufnahme der sexuellen Identität in Artikel 3. Auch dieses Merkmal war im Nationalsozialismus Grundlage für die systematische Verfolgung von Minderheiten.
Schutz vor Staatenlosigkeit
Ab dem Jahr 1933 wurde vor allem jüdischen Menschen die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Ab 1935 gab es neben der Staatsangehörigkeit die Kategorie des „Reichsbürgerrechts“, das volle politische Mitbestimmung unter anderem an rassistische Merkmale knüpfte. Deshalb regelt das Grundgesetz heute in Artikel 16 Absatz 1: Wer die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, dem dürfen diese Rechte nicht einfach „weggenommen“ werden. Eine solche Aberkennung von Rechten vor allem jüdischer Menschen fand im Nationalsozialismus bereits ab 1933 statt. Menschen, denen in der Zeit des Nationalsozialismus die Staatsangehörigkeit entzogen wurde, haben gemäß Artikel 116 das Recht, wieder eingebürgert zu werden.
Ewiger Schutz vor Diktatur?
Der dritte Absatz von Artikel 79 legt fest, dass bestimmte Grundentscheidungen der Verfassung nicht rückgängig gemacht werden dürfen – nicht einmal mit der Zweidrittelmehrheit, die in anderen Fällen für eine Änderung des Grundgesetzes ausreichen. Zu diesen Grundentscheidungen gehören Artikel 1 und Artikel 20, also unter anderem die Garantie der Menschenwürde, die Gewaltenteilung, der Rechts-, Bundes- und Sozialstaat. Bietet das Grundgesetz damit einen ewigen Schutz vor Diktaturen wie der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft? Wohl kaum, denn ein Gesetzestext kann allein nie vor gesellschaftlichen Umbrüchen schützen. Ein Staat, in dem die in Artikel 79 genannten Grundsätze nicht mehr gelten, wäre nur nicht durch das Grundgesetz legitimiert. Umso wichtiger ist es, dass wir uns aktiv für den Erhalt des demokratischen, an die Grundrechte gebundenen Staates einsetzen, den unsere Verfassung vorsieht.