Verdachtsberichterstattung und Grundrechte – warum die Presse so gern „mutmaßlich“ sagt 

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Wenn in den Medien öffentlich über den Verdacht einer begangenen Straftat berichtet wird, gelten besondere Regeln – vor allem dann, wenn Rückschlüsse auf die Identität einer verdächtigten Person möglich werden. Das nennt man Verdachtsberichterstattung. Dahinter steht ein zentraler Konflikt des Grundgesetzes: Es steht die Meinungs- und Pressefreiheit gegen das sogenannte „allgemeine Persönlichkeitsrecht“. 

Wird medial über eine Straftat berichtet, heißt es häufig, der „mutmaßliche“ Täter „Herr L.“ habe dies oder jenes gemacht. „Möglicherweise“ habe er eine Straftat begangen, darauf gebe es zumindest „Hinweise“. Als Leser fragt man sich dann: Was ist genau passiert? Und wer steckt dahinter? Konkreter wird es in einem Zeitungsbericht aber selten. Das liegt oft nicht daran, dass der Presse diese Informationen fehlen – sondern daran, dass in diesem Fall die Meinungs- und Pressefreiheit und das sogenannte „allgemeine Persönlichkeitsrecht“ aufeinandertreffen. 

Die Rechte der Presse 

Die Grundrechte der Meinungs- und Pressefreiheit werden in Deutschland durch Art. 5 Grundgesetz (GG) gewährleistet. Art. 5 GG lautet: 

„(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (…)“

Diese Grundrechte hängen folgendermaßen zusammen:  

Die Pressefreiheit schützt jede Art von Pressearbeit: von der Recherche über den Druck bis hin zur Verbreitung von Artikeln. Dagegen schützt die Meinungsfreiheit den konkreten Inhalt des Artikels – jedenfalls dann, wenn der Artikel nicht nur Tatsachen darstellt, sondern auch Wertungen enthält.  

Ein Beispiel: Eine Reporterin möchte der Frage nachgehen, ob es „die“, „das“ oder „der“ Nutella heißt. Die Pressefreiheit sorgt dafür, dass die Reporterin ungestört Informationen sammeln und den Artikel drucken sowie verbreiten kann. Da die Antwort auf diese Frage sicherlich nicht endgültig geklärt ist, wird sich die Reporterin gegenüber den zahlreichen Beschwerden über ihre Sicht der Dinge auf die Meinungsfreiheit berufen können. 

Die Rechte der Betroffenen 

Es ist das wohl wichtigste Grundrecht im Medienbereich: das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Es ergibt sich aus einem Zusammenspiel zwischen Art. 1 GG (der Würde des Menschen), und Art. 2 Abs. 1 GG (die freie Entfaltung der Persönlichkeit). Vereinfacht gesagt schützt es das Recht des Einzelnen auf Privatsphäre; also sich zurückzuziehen, und nur das von sich preiszugeben, was man preisgeben möchte – auch online. Es umfasst deshalb zahlreiche Situationen: Ob es Prominente sind, die eine unliebsame Geschichte aus einem Klatschblatt entfernen wollen, oder die Frage, ob ein Arbeitgeber im Bewerbungsgespräch nach der Familienplanung fragen darf.  

Vor diesem Hintergrund ist es nie erlaubt, unwahre Tatsachen über andere zu behaupten. Eine Tatsache im rechtlichen Sinne ist etwas, das sich beweisen lässt. Also beispielsweise, ob in Nutella Palmöl enthalten ist oder nicht. Keine Tatsache, sondern eine Meinung, ist die Frage, ob Nutella schmeckt. Aber auch die Veröffentlichung wahrer Tatsachen oder die bloße Äußerung eines Verdachts kann das Persönlichkeitsrecht verletzen. Das kann insbesondere der Fall sein, wenn der Verdacht einer Straftat im Raum steht. Zusätzlichen Schutz bietet dann die Unschuldsvermutung. Das ist in erster Linie für Gerichte relevant, betrifft jedoch auch die Medienhäuser. 

Die Regeln der Verdachtsberichterstattung 

Diese beiden Grundrechtspositionen – die Presse- und Meinungsfreiheit einerseits, das allgemeine Persönlichkeitsrecht andererseits – geraten häufig miteinander in Konflikt. Die Medien haben ein Interesse daran, die Gesellschaft über relevante Geschehnisse aufzuklären. Betroffene möchten, dass ihr Ruf nicht ungerechtfertigt geschädigt wird. Um alle Interessen in einen gerechten Ausgleich zu bringen, wurden die Regeln der Verdachtsberichterstattung entwickelt. Diese Regeln gelten grundsätzlich dann, wenn über Straftaten oder rufschädigende Ereignisse berichtet wird. Dabei gilt: 

  1. Es muss ein Interesse der Öffentlichkeit an der Information bestehen – also an dem Ereignis und der Identität der betroffenen Person. Das ist z.B. der Fall, wenn eine besonders berühmte Person verdächtigt wird, oder eine besonders schwere Straftat im Raum steht. 
  1. Es muss ein Mindestbestand an Beweisen vorliegen. Das heißt: Es muss gewisse Anhaltspunkte geben, die dafür sprechen, dass diese Person etwas mit den Geschehnissen zu tun hat.  
  1. Bei der Recherche muss die journalistische Sorgfaltspflicht eingehalten werden. Insbesondere heißt das, nicht nur nach Fakten für eine Sichtweise, sondern für alle Sichtweisen zu suchen. Dabei muss der beschuldigten Personen eine realistische Möglichkeit gegeben werden, zu den Vorwürfen Stellung zu beziehen.  
  1. Es darf keine Vorverurteilung stattfinden. Es muss also klar werden, dass es sich nur um einen Verdacht handelt, die Situation muss ausgewogen dargestellt werden. 

Dabei gibt es keine pauschale Regel, nach der beurteilt werden kann, welche Äußerung erlaubt und welche verboten ist. Es kommt immer auf eine Abwägung der betroffenen Interessen im Einzelfall an. Und selbst wenn eine Person tatsächlich von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt wurde, ist eine Berichterstattung darüber nicht immer uneingeschränkt erlaubt. Das gilt vor allem dann, wenn der Bericht Rückschlüsse auf die Identität der Person und auf die Tat ermöglicht.  

Sollten diese Regeln der Verdachtsberichterstattung verletzt werden, haben Betroffene verschiedene Möglichkeiten, sich gegen die dann unzulässige Berichterstattung zu wehren. Oft muss dann der Artikel entfernt oder zensiert werden. Die Betroffenen können auch einfordern, dass die Behauptungen über sie öffentlich richtiggestellt werden. Und in besonders schwerwiegenden Fällen können sie sogar eine Entschädigung verlangen. 

Wenn Medien also vorsichtig mit ihrer Berichterstattung umgehen, liegt das nicht daran, dass die Medien „Täterschutz“ betreiben oder um das Image der fraglichen Personen besorgt sind. Es ist vielmehr das Ergebnis einer umfassenden Abwägung von Grundrechten, die ein Gleichgewicht zwischen berechtigten Medieninteressen und der Privatsphäre Betroffener herstellen sollen – und dafür sorgen, dass auch unter dem Schutzschirm der Meinungsfreiheit nicht alles gesagt und behauptet werden darf. 

Anm. an die Redaktion: Im Wesentlichen ergeben sich diese Grundsätze aus BGH, Urteil v. 22. Februar 2022 – VI ZR 1175/20, Randnummer 24 ff.