Anmerkungen zur Interviewpartnerin: Annika Fischer-Uebler promoviert im Verfassungsrecht und ist wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Religionsrecht (Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Muckel).
In dem Interview geht es um den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. November 2021, in dem entschieden wurde, dass coronabedingte Schulschließungen mit dem Grundgesetz vereinbar waren. Das Interview führten Max Camphausen und Lisa Dudeck.
GGV: Annika, in der Entscheidung zu Schulschließungen, über die wir heute sprechen wollen, steht am Anfang, wer die Verfassungsbeschwerde erhoben hat, also quasi „Kläger:in“ ist. Unter anderem: Zwei Grundschülerinnen, deren Schule geschlossen wurde. Wie geht das, wie kommen Kinder nach Karlsruhe?
Annika: Grundsätzlich kann sich jede Person gegen Gesetze wenden, wenn sie das Gefühl hat, dass sie durch diese Gesetze in Grundrechten beeinträchtigt wird. Hierzu gehören natürlich auch Kinder. Sie können das aber nicht allein machen, sondern sind auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen. Denn die Eltern sind dafür zuständig, ihre Kinder zu vertreten und für sie zu sorgen und dementsprechend müssen die Kinder dann vor Gericht von ihren Eltern vertreten werden.
GGV: Bevor wir uns näher angucken, was das Bundesverfassungsgericht beschlossen hat: Warum interessiert uns jetzt, im Dezember 2021, ob die Schulen vor einem Jahr geschlossen werden durften?
Annika: Hierfür gibt es zwei Gründe. Zum einen dauern Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht häufig sehr lange, manchmal mehrere Jahre. Dabei ist es typisch, dass die Situation, gegen die man sich wendet, gar nicht mehr besteht, wenn die Entscheidung gefällt wird. Hierauf hat man selbst wenig Einfluss. Deshalb darf dieser Umstand nicht dazu führen, dass man nicht gegen solche Gesetze vorgehen kann.
Der zweite Grund ist aber viel wichtiger und das ist der Blick in die Zukunft. Je nachdem wie sich die Situation entwickelt, kann es ja sein, dass der Gesetzgeber nochmal auf die Idee kommt, Schulen zu schließen. Für diese zukünftige Entscheidung gibt der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts maßgebliche Vorgaben und zeigt, unter welchen Voraussetzungen Schulschließungen in Zukunft überhaupt noch möglich sind.
GGV: Okay, damit vielleicht die Frage vorweg, die Schüler:innen gerade wahrscheinlich am meisten beschäftigt: Bedeutet die Entscheidung jetzt, dass die Schulen demnächst ganz einfach wieder geschlossen werden können?
Annika: Ganz einfach können die Schulen sicher nicht wieder geschlossen werden, ausgeschlossen ist dies aber ebenso wenig. Das Bundesverfassungsgericht betont, dass sich die Entscheidung nur auf die Lage im Frühjahr 2021 bezieht und die Regelungen zu diesem Zeitpunkt in Ordnung waren. Es betont auch sehr oft: Je öfter und je länger die Schulen in der Summe geschlossen sind, desto schwerer wiegen die Schulschließungen und desto höher sind die Anforderungen, um die Schulen nochmals zu schließen. Man muss also die Schulschließungen, die bereits erfolgt sind, zusammenrechnen und kann nicht jede einzelne Schulschließung für die Zukunft nur „für sich“ betrachten.
Außerdem war die Tatsachengrundlage, auf der man damals entschieden hat, natürlich eine ganz andere als heute: Je länger die Situation andauert, desto höher ist die Verpflichtung des Gesetzgebers, entsprechende Daten zu erheben und herauszufinden, wie effektiv die Maßnahmen tatsächlich sind. Das heißt, dass der Gesetzgeber prüfen muss, ob Schulschließungen überhaupt Infektionen vermeiden oder ob es nicht auch andere Maßnahmen gibt. In Zukunft kann sich der Gesetzgeber bei einer Schulschließung also nicht mehr so einfach auf die Lage im Frühjahr 2021 berufen, bei der noch nicht so viele Erkenntnisse vorlagen.
GGV: Gut, dann schauen wir uns die Begründung des Bundesverfassungsgerichts mal näher an. Dort steht, dass Schüler:innen ein „Recht auf Bildung“ haben. Was bedeutet das? Was kann ich als Schüler:in vom Staat einfordern?
Annika: Das Bundesverfassungsgericht leitet das Recht auf Bildung aus dem Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung der Kinder sowie dem Bildungsauftrag des Staates ab. Aus dem Recht auf Bildung ergibt sich aber nicht das Recht auf eine spezifische Schulform. Man halt also keinen Anspruch darauf, dass der Staat Bildung auf eine bestimmte Weise anbietet und etwa einen bestimmten Lehrplan vorsieht. Die Kinder haben aber ein Recht auf einen „unverzichtbaren Mindeststandard von Bildungsangeboten“ an staatlichen Schulen. Es gibt also ein Recht darauf, dass es überhaupt schulische Bildungsangebote gibt und dass man einen diskriminierungsfreien Zugang zu diesen Bildungsangeboten hat.
GGV: Okay, bleiben wir doch kurz bei diesem „Mindeststandard von Bildungsangeboten“. Was heißt das im konkreten Fall? Wann wäre dieser Mindeststandard nicht mehr eingehalten?
Annika: Zunächst betont das Bundesverfassungsgericht, dass der Staat einen sehr großen Spielraum bei der Frage hat, wie dieser Mindeststandard aussehen kann. In Bezug auf den konkreten Fall sagt das Gericht aber, dass aus dem Verbot von Präsenzunterricht zumindest folgt, dass Distanzunterricht als Ersatz angeboten werden muss. Es kann also nicht sein, dass durch das Verbot von Präsenzunterricht gar kein Unterricht mehr stattfindet. Am Anfang der Pandemie gab es ja sogar die Situation, dass überhaupt kein echter Unterricht mehr stattfand, sondern einfach Unterlagen zur Bearbeitung hochgeladen wurden. Aus meiner Sicht wäre dies dann nicht mehr mit den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts vereinbar.
GGV: Gut, jetzt haben wir also auf der einen Seite das Recht auf Bildung und auf der anderen Seite das Problem, dass in Schulen Menschen zusammenkommen, die das Coronavirus weitergeben oder sich damit anstecken können. Welches Recht steht auf dieser anderen Seite?
Annika: Auf der anderen Seite steht das Recht auf Leben und Gesundheit, das genauso wie das Recht auf Bildung im Grundgesetz verankert ist. Der Staat muss dieses Recht in zwei Richtungen beachten: Erst einmal darf er Menschen natürlich nicht aktiv schädigen, also zum Beispiel körperlich verletzen. Genauso muss der Staat dieses Recht aber auch vor Angriffen von anderen Seiten schützen. In der Pandemie muss der Staat aufgrund dieser Schutzpflicht vor allem dafür sorgen, dass das Gesundheitssystem funktioniert und nicht überlastet wird.
GGV: Diese Rechte treffen also bei Schulschließungen aufeinander. Wie entscheiden Jurist:innen, welches Recht im konkreten Fall „stärker“ ist?
Annika: Dazu nehmen Jurist:innen eine Abwägung vor, für die es ein spezielles Vorgehen gibt. In unserem Fall sieht das so aus: Das Recht auf Bildung wird eingeschränkt, um das Recht auf Leben und Gesundheit zu schützen. Die konkrete Maßnahme hierzu sind die Schulschließungen. Im ersten Schritt müssen wir uns nun fragen, ob die Schulschließungen überhaupt geeignet sind, ihr Ziel, den Schutz von Leben und Gesundheit, zu erreichen. Wir müssen also fragen: Trägt Distanzunterricht wirklich dazu bei, die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern? Diesen Zusammenhang gäbe es zum Beispiel dann nicht, wenn (Schul-)Kinder gar nicht in der Lage wären, das Virus weiterzugeben. Als nächstes müssen wir uns fragen, ob es weniger belastende Alternativen zu geschlossenen Schulen gegeben hätte, die genauso gut Infektionen verhindern. Zum Beispiel könnte man überlegen, ob es ausreicht, Schüler:innen regelmäßig auf das Virus zu testen und die Schulen dafür offen zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht kam aber zu dem Schluss, dass die Tests allein Infektionen nicht so gut verhindern wie Distanzunterricht. Im letzten Schritt müssen wir uns fragen, ob die staatliche Maßnahme, also hier die Schulschließung, angemessen ist, um Leben und Gesundheit zu schützen. Hier müssen wir uns ganz genau anschauen, welche Umstände der Staat wie in die Regelungen einbezogen hat. Bei den Schulschließungen war zum Beispiel wichtig, dass die Schulen eine Notbetreuung anbieten konnten, dass es Ausnahmen für Abschlussklassen gab oder dass tatsächlich Distanzunterricht als Ersatz stattfand. All das sind Aspekte, die in unserem Fall berücksichtigt werden müssen.
GGV: Das klingt nach einer schwierigen Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht lässt in dem Beschluss häufig diejenigen zu Wort kommen, die in ihrem Alltag mit den Schulschließungen zu tun hatten, zum Beispiel Ärzt:innen, Lehrer:innen, Eltern, Schüler:innen und Schulen selbst. Welche Bedeutung hat die Meinung dieser „sachkundigen Dritten“ für die Entscheidung des Gerichts?
Annika: Das Gericht hat selbst wahrscheinlich keine Expertise zu der Frage, wie viele Ansteckungen es in Schulen gibt, wie belastet das Gesundheitssytem ist oder wie sich Schulschließungen psychisch auf die Schüler:innen auswirken. Zu all diesen Fragen kann das Gericht Stellungnahmen von Personen einholen, die dazu das nötige Fachwissen haben. So kann das Gericht besser einschätzen, welche praktischen Folgen Schulschließungen haben. Die Einschätzungen sind aber vor allem eine Hilfe, das Gericht muss sich ihnen nicht unbedingt anschließen. Zu den Schulschließungen gab es zum Beispiel eine einzige Stellungnahme, nach der Tests in Schulen Infektionen besser verhindern als Distanzunterricht. Dieser Meinung musste das Bundesverfassungsgericht nicht folgen.
GGV: Okay, versetzen wir uns mal in die Rolle des Gesetzgebers vor einigen Monaten. Die Impfungen haben gerade erst begonnen und es ist naturwissenschaftlich einfach noch nicht ganz klar, welche Folgen Präsenzunterricht für die Verbreitung des Virus hat. Wie frei kann der Gesetzgeber in so einer Situation eine Entscheidung treffen?
Annika: Gerade in so einer Situation hat der Gesetzgeber einen großen Spielraum, um einzuschätzen, welche Maßnahme am sinnvollsten ist, hier also am wirksamsten die Ausbreitung des Coronavirus verhindert. Je weniger wir über das aktuelle Geschehen, also zum Beispiel über Infektionswege wissen, desto größer ist der Spielraum des Gesetzgebers. Das heißt aber nicht, dass der Gesetzgeber völlig frei in seiner Entscheidung ist. Die Politik muss mit allen bekannten Daten und Fakten zur Situation zu einem vernünftigen Ergebnis gelangen. Nur ob das gelungen ist, überprüft das Bundesverfassungsgericht.
GGV: Gut, wir kommen zum Ende unserer Zeit und an dieser Stelle nochmal zum Anfang unseres Interviews zurück, Stichwort „Kinder vor dem Bundesverfassungsgericht“. In der Entscheidung heißt es immer wieder, Kinder hätten ein Recht, sich zu „eigenverantwortlichen Persönlichkeiten“ zu entwickeln. Wir würde sich dieses Recht entwickeln, wenn in den nächsten Jahren tatsächlich Kinderrechte in das Grundgesetz eingefügt werden?
Annika: Diese Frage ist natürlich noch offen. Selbstverständlich haben Kinder auch jetzt schon Grundrechte: Rechte, die allen Menschen zustehen, stehen auch Kindern zu. Es wird aber trotzdem immer wieder gefordert, dass die speziellen Interessen von Kindern im Grundgesetz stärker berücksichtigt werden. An der Entscheidung zu den Schulschließungen sieht man, dass Kinderrechte auch ohne eine Änderung des Grundgesetzes stark gemacht werden können. Man sieht aber auch: Es brauchte hier erst einmal eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der ein „Recht auf Bildung“ anerkannt wurde. Das wäre nicht notwendig gewesen, wenn dieses Recht schon ausdrücklich im Grundgesetz stehen würde. So gesehen könnte ich mir vorstellen, dass Kinderrechte in Bereichen wie der Schulbildung dabei helfen, dass Kinder sich in unserer Gesellschaft wirklich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten entwickeln können.