Zur Interviewpartnerin: Nina Chiara Mruk promoviert am Institut für Öffentliches Recht und Politik in Münster zum Thema Rüstungsexporte, insbesondere der Bedeutung von Grundrechten für diese sowie ihrer parlamentarischen und gerichtlichen Kontrolle. Zudem ist sie als Dozentin im Examensvorbereitungsprogramm der Universität Münster tätig. Das Gespräch führte Lisa Dudeck.
In dem Interview geht es darum, welche Vorgaben Grundgesetz, EU- und Völkerrecht für den Umgang Deutschlands mit bewaffneten Konflikten machen. Anlass des Gesprächs und Bezugspunkt einiger Fragen ist der Angriff Russlands auf die Ukraine. Zu tagesaktuellen politischen und militärischen Entwicklungen will das Interview aber weder informieren noch Stellung nehmen.
GGV: Nina, wir wollen heute über einen Teil des Grundgesetzes sprechen, mit dem sich die meisten Menschen – man möchte fast sagen: glücklicherweise – noch nie befasst haben. Kannst du uns vielleicht erst einmal einen Überblick geben, an welchen Stellen sich unsere Verfassung zu militärischen Einsätzen äußert?
Das Grundgesetz enthält zunächst einmal keinen eigenen Abschnitt über den Einsatz der Streitkräfte. Die Normen, die zur „Wehrverfassung“ gezählt werden, finden sich also nicht gebündelt, sondern im Grundgesetz verstreut. Eingefügt wurden sie größtenteils 1956, als militärische Einsätze aufgrund der Ost-West-Konfrontation auch für die Bundesrepublik wieder ins Vorstellbare rückten. Aufstellung und Einsatz von Streitkräften sind in Art. 87a GG geregelt. Die Streitkräfte dürfen nur dann eingesetzt werden, wenn das Grundgesetz dies ausdrücklich erlaubt (Abs. 2). In Absatz 3 und 4 finden sich direkt zwei Beispiele: der Verteidigungs- und Spannungsfall sowie der innere Notstand. Damit darf die Bundeswehr von außen kommende bzw. drohende Angriffe auf das Gebiet der Bundesrepublik abwehren und innere Gefahren wie bewaffnete Aufstände bekämpfen. Ebenfalls erlaubt ist der Bundeswehreinsatz im Katastrophenfall, der z.B. bei Naturkatastrophen wie Hochwassern und Erdbeben ausgerufen wird (Art. 35 GG). Die Auslandseinsätze der Bundeswehr seit den 90er Jahren – z.B. im Rahmen der NATO – sind dann noch mal ein ganz anderes Thema.
GGV: Auf die NATO kommen wir natürlich an späterer Stelle zurück. Schauen wir uns den Art. 87a GG, den du eben schon genannt hast, doch noch einmal genauer an. Dort heißt es: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ Was bedeutet Verteidigung? Muss Deutschland das eigene Staatsgebiet verteidigen?
Verteidigung heißt zunächst einmal Abwehr eines Aggressors, was bedeutet, dass die Bundeswehr niemals selbst Aggressor sein darf. Das kommt hier ebenso wie an zwei anderen Stellen des Grundgesetzes deutlich zum Ausdruck: Die Präambel ganz am Anfang des Grundgesetzes enthält die Bekundung, dem Frieden der Welt zu dienen. Außerdem verbietet die Verfassung Angriffskriege nach Art. 26 Abs. 1 GG.
Kern der Verteidigung eines Staates ist sicherlich die Verteidigung seines Territoriums, also die Abwehr von Angriffen auf das Bundesgebiet. Die Wehrverfassung wurde aber auch eingeführt, damit Deutschland seiner Verpflichtung zum militärischen Beistand gegenüber den NATO-Mitgliedsstaaten nachkommen konnte. Der Angriff auf eines oder mehrere (andere) NATO-Länder berechtigt also genauso zur Verteidigung wie der Angriff auf deutsches Gebiet.
GGV: Nina, bevor wir den Blick für internationale Zusammenschlüsse weiten, musst du mir noch einen Begriff erklären. Häufig liest man, Deutschland habe eine „Parlamentsarmee“. Was ist damit gemeint?
Gemeint ist der „wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt“: Jedem Militäreinsatz der Bundeswehr muss vorher der Bundestag zugestimmt haben. Finden lässt sich dieser Vorbehalt im Grundgesetz nicht, man kann sogar so weit gehen zu sagen, dass er vom Bundesverfassungsgericht „erfunden“ wurde. Die Teilnahme der Bundeswehr an internationalen Operationen, zum Beispiel in Bosnien und Herzegowina und in Somalia, war umstritten und ihre rechtliche Grundlage nicht ausreichend geklärt. Einige Fraktionen des Bundestages zogen deshalb vor das Bundesverfassungsgericht. Dieses stellte fest, dass sich die Auslandseinsätze zwar auf das Grundgesetz stützen konnten, sich aus der Verfassung und ihrer Tradition aber gleichzeitig ergab, dass der Bundestag jedem Einsatz zustimmen musste. Sieht man einmal von diesem Parlamentsvorbehalt für konkrete Einsätze ab, hat der Bundestag aber auch noch auf andere Weise mitzureden. So müssen sich die zahlenmäßige Stärke der Streitkräfte und ihre Organisation aus dem Haushalt ergeben, der vom Bundestag aufgestellt wird. Außerdem kontrollieren Verteidigungsausschuss und Wehrbeauftragte:r des Parlaments die Tätigkeit der Bundeswehr.
GGV: Okay, wir haben es schon angesprochen, bewaffnete Konflikte betreffen in der Regel nicht ein Land isoliert – Deutschland ist in verschiedene internationale Organisationen eingebunden. Fangen wir mal mit der NATO an, um was für eine Form von Bündnis geht es hier und welche Aufgabe erfüllt es?
Die NATO ist eine nach dem zweiten Weltkrieg durch völkerrechtlichen Vertrag gegründete Organisation, die mittlerweile 30 europäische und nordamerikanische Mitgliedstaaten hat. Sie sieht sich als politische und militärische Allianz und wird deshalb oft als Verteidigungsbündnis bezeichnet. Zum einen möchte die NATO demokratische Werte fördern und bekennt sich zu internationalem Frieden und Sicherheit. Zum anderen sieht der NATO-Vertrag vor, dass die Mitgliedstaaten sich im Falle eines Angriffs gegenseitig unterstützen. Nach Art. 5 des Vertrages wird ein Angriff auf eines der Mitglieder als Angriff auf alle Mitglieder verstanden. Was dabei häufig missverstanden wird: Der Beistand, den sich die Mitglieder im „Bündnisfall“ schulden, muss nicht automatisch militärischer Art sein.
GGV: Alles klar, die NATO wird also vor allem im „Bündnisfall“ tätig. Gab es das schon einmal? Und auf welcher rechtlichen Grundlage beteiligt sich Deutschland dann an NATO-Einsätzen?
Der Bündnisfall wurde bislang nur einmal ausgerufen, nämlich nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon in den USA am 11. September 2001. In der übrigen Zeit ist die NATO natürlich nicht untätig geblieben, sondern hat sich mit einer Vielzahl von Missionen für den Frieden auf der Welt eingesetzt, in den 90er Jahren zum Beispiel in Bosnien und Herzegowina oder seit 2018 im Irak.
Was die rechtliche Grundlage angeht, hat Deutschland gem. Art. 24 Abs. 2 GG das Recht, sich in „Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ einzuordnen, zu denen auch die NATO zählt. Die Vorschrift gibt nicht nur das Recht zur Mitgliedschaft, sondern auch zur Übernahme der damit verbundenen Aufgaben, also etwa der Teilnahme an gemeinsamen Missionen.
GGV: Neben der NATO tauchen derzeit auch andere Bündnisse in der Berichterstattung zur Ukraine auf. Eines davon sind die Vereinten Nationen bzw. der UN-Sicherheitsrat. Welche Rolle spielt der Sicherheitsrat bei bewaffneten Konflikten?
Die 1945 gegründeten Vereinten Nationen sind ebenfalls eine internationale Organisation, allerdings nicht regional beschränkt wie die NATO. Heute haben sie 193 Mitgliedstaaten. Der einzige anerkannte Staat, der nicht Mitglied ist, ist der Vatikan. Gebiete wie Palästina oder Taiwan dagegen sind keine Mitglieder, weil sie nicht als unabhängige Staaten anerkannt sind. Die Vereinten Nationen wollen den Weltfrieden, die Einhaltung des Völkerrechts und den Schutz der Menschenrechte sichern und stehen für die internationale Zusammenarbeit der Staaten. Wichtige Organe der Vereinten Nationen sind die Generalversammlung und der Sicherheitsrat. In der Generalversammlung sind alle Mitglieder der Vereinten Nationen vertreten, im Sicherheitsrat hingegen nur fünfzehn Mitglieder. Fünf dieser Mitglieder sitzen ständig im Sicherheitsrat: Frankreich, Großbritannien, USA, Russland, China. Die anderen Mitglieder werden jeweils für zwei Jahre von der Generalversammlung gewählt. Der Sicherheitsrat ist nach der Charta der Vereinten Nationen hauptsächlich für die Wahrung des Weltfriedens und die internationale Sicherheit verantwortlich. Dazu kann der Rat eine Bedrohung des Friedens, einen Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung feststellen und darauf aufbauend Empfehlungen abgeben und Maßnahmen einleiten. Solche Maßnahmen können dann gewaltloser oder militärischer Art sein. Der Sicherheitsrat kann als einziges Organ der Vereinten Nationen für die Mitglieder verbindliche Resolutionen erlassen und damit zur Umsetzung verpflichten. In der Praxis scheitert der Sicherheitsrat jedoch häufig – wie auch in der gegenwärtigen Lage – am Vetorecht seiner ständigen Mitglieder.
GGV: Über eine weitere Ebene würde ich noch gerne mit dir sprechen. Zu Sanktionen und Waffenlieferungen äußern sich derzeit auch Ursula von der Leyen (EU-Kommissionspräsidentin), Charles Michel (EU-Ratspräsident) und Josep Borrell (EU-Außenbeauftragter). Welche Möglichkeiten hat die EU, auf militärische Konflikte zu reagieren?
Die EU hat eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie eine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Wichtiges Instrument der GASP sind „restriktive Maßnahmen“ oder Sanktionen. Sanktionen sollen das Verhalten des Sanktionierten ändern und auf diese Weise die Ziele der GASP fördern. Im Falle Russlands gehören dazu unter anderem das Verbot von Transaktionen mit der russischen Zentralbank, die Sperrung des EU-Luftraums sowie das Einfrieren von Vermögenswerten ausgewählter Personen. Über die „Europäische Friedensfazilität“, einen Fonds der EU, konnte die Union der Ukraine nun außerdem 500 Millionen Euro für Material und Ausrüstung zur Verfügung stellen, wozu erstmals auch tödliche Waffen gehören.
GGV: Okay, bei dem Thema Waffenlieferungen sollten wir doch noch einmal auf das Grundgesetz zurückkommen. Auch die Bundesregierung hat beschlossen, der Ukraine Waffen zu liefern. Geht das so einfach? Wie ist das mit unserer Verfassung zu vereinbaren?
Die Entscheidung darüber, ob und in welchem Umfang Kriegswaffen exportiert werden dürfen, trifft nach dem Grundgesetz die Bundesregierung (Art. 26 Abs. 2 GG). Recht vage Kriterien für die Genehmigung für Waffenlieferungen finden sich im Kriegswaffenkontrollgesetz. Handfestere, aber rechtlich unverbindliche, Kriterien finden sich in den politischen Grundsätzen der Bundesregierung für den Rüstungsexport. Schaut man sich diese Grundsätze an, sieht man den Versuch unterschiedlichste Interessen in Einklang zu bringen: außen- und sicherheitspolitische, verteidigungs- und friedenspolitische, menschenrechtliche. Für EU-Staaten, NATO-Länder und „NATO-gleichgestellte Länder“ sind Exporte im Regelfall möglich und nur im Einzelfall aus politischen Gründen zu beschränken. Die Ukraine gehört jedoch zu den Drittländern, in die Exporte umgekehrt nur ausnahmsweise genehmigt werden sollen, wenn besondere außen- oder sicherheitspolitische Interessen Deutschlands dafürsprechen. In Länder, die, wie aktuell die Ukraine, in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt sind, sollen eigentlich generell keine Waffen exportiert werden. Eine Ausnahme machen die Grundsätze jedoch für Fälle des Art. 51 der UN-Charta, in denen ein Mitglied der Vereinten Nationen sich selbst gegen einen Aggressor verteidigt. In der Ukraine ist das der Fall.
GGV: Danke für das Gespräch, Nina!