Das Jahr 2024 ist gerade einmal etwas mehr als drei Wochen alt und schon gibt es den zweiten Streik bei der Bahn. Dieser führt dazu, dass in ganz Deutschland für mehrere Tage so gut wie keine Züge fahren. Für die Bahnreisenden sind solche Streiks mit vielen Fragen verbunden: Kann ich die Reise verschieben? Kann ich ein anderes Fortbewegungsmittel benutzen? Oder auch: Warum dürfen die Streikenden das überhaupt?
Die „Koalitionsfreiheit“ im Grundgesetz
Zumindest auf die letzte der Fragen soll der folgende Beitrag eine kurze Antwort geben. Im Grundgesetz gibt es kein Grundrecht, das den „Streik“ ausdrücklich schützt, dennoch ist ein solcher im Ergebnis grundrechtlich geschützt. Ausgangspunkt für diesen Schutz ist Artikel 9 Abs. 3 S. 1, 2 Grundgesetz (GG), der Nachstehendes regelt:
„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“
Diese Vorschrift regelt die sogenannte Koalitionsfreiheit und besagt, dass sich Arbeitnehmer:innen zu einer Koalition zusammenschließen dürfen, um die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu schützen und zu verbessern. Solche Koalitionen sind auch die Gewerkschaften, wie bei der Bahn die Gewerkschaft der Lokomotivführer (kurz: GDL).
Aufgabe einer solchen Gewerkschaft ist es also, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu fördern. Das tut sie dadurch, dass sie mit Arbeitgeber:innen oder deren Verbänden Tarifverträge aushandelt. Ein Tarifvertrag bestimmt – wie eine gesetzliche Vorschrift – insbesondere den Inhalt aller Arbeitsverträge in seinem Geltungsbereich. Häufig gelten solche Tarifverträge deshalb für alle Menschen, die einen bestimmten Beruf ausüben – bei der Bahn z. B. für alle Lokomotivführer:innen. Dass die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite solche gesetzesähnlichen Vorschriften ohne staatlichen Zwang erlassen dürfen, nennt man Tarifautonomie. Diese ist auch von Artikel 9 Abs. 3 GG geschützt.
Was hat die Koalitionsfreiheit mit Streiks zu tun?
Nun kann aber niemand – auch nicht die Arbeitgeber:innen – gezwungen werden, einen Vertrag zu schließen. Die Gewerkschaften können deshalb die Arbeitgeber:innen nicht zwingen, einen Tarifvertrag abzuschließen. Ein Recht, das nicht erzwingbar ist, ist aber nahezu wertlos. Die Gewerkschaften benötigen also ein Druckmittel, damit sie ihren Zweck erfüllen können, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Arbeitnehmer:innen zu schützen und zu verbessern. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht anerkannt, dass Artikel 9 Abs. 3 GG auch das Streikrecht als Teil des sogenannten Arbeitskampfes (andere Mittel sind z.B. Boykott oder Betriebsbesetzung) umfasst. Jedoch ist zu beachten, dass ein Streik immer nur dann erlaubt ist, wenn er auf ein legitimes Ziel, nämlich den Abschluss eines Tarifvertrages, gerichtet ist.
Die oben aufgeworfene Frage kann also damit beantwortet werden, dass die Arbeitnehmer:innen ihr von Artikel 9 Abs. 3 GG geschütztes Recht geltend machen und einen „Arbeitskampf“ mit dem Mittel des Streiks führen.
Grenzen des Streikrechts
Nun stellt sich die Frage, ob es nicht auch Grenzen für dieses Recht gibt? Immerhin legen die Bahnstreiks regelmäßig fast den gesamten Bahnverkehr lahm. So unterliegen Arbeitskampfmaßnahmen, wie ein Streik, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Ein Streik muss also nicht nur ein legitimes Ziel (den Abschluss eines Tarifvertrags) anstreben, sondern auch geeignet, erforderlich und angemessen sein. Letzteres fordert in der Regel eine Abwägung aller beteiligten Interessen. Dabei müssen sowohl die Interessen der Arbeitnehmer:innen als auch der Arbeitgeber:innen beachtet werden. Außerdem muss der Streik als letztes mögliches Mittel eingesetzt werden, d. h. es müssen zuvor Verhandlungslösungen und ein Schlichtungsverfahren gescheitert sein. Daneben gibt es noch weitere spezielle Grenzen, wie z.B. die Friedenspflicht – diese hier zu thematisieren, würde jedoch zu weit führen.
Abschließend sei noch kurz darauf hingewiesen, dass zu einem Arbeitskampf natürlich auch eine Gegenseite, also beim Streik durch die Arbeitnehmergewerkschaft die Arbeitgeberseite gehört. Diese darf im Arbeitskampf nicht wehrlos gestellt werden (sog. Kampfparität). So kann sie nicht nur die Rechtmäßigkeit eines Streiks vor Gericht überprüfen lassen, sondern selbst zu Arbeitskampfmitteln greifen. Die Arbeitgeberseite kann beispielsweise zur Aussperrung greifen. Dabei werden die Arbeitnehmer:innen ohne Lohnfortzahlung von der Arbeit ausgeschlossen.