Im ersten Blogbeitrag zu den Protesten der Letzten Generation (hier geht’s zu Teil 1) ging es um den verfassungsrechtlichen Schutz dieser Proteste durch das Grundgesetz (GG), genauer gesagt die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG. Dabei wurde festgestellt, dass jedenfalls Sitzblockaden als Protestaktionen von der Versammlungsfreiheit geschützt sind, aber eine Auflösung der Versammlung unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt sein kann. In diesem Beitrag geht es nun um die strafrechtliche Bewertung der Sitzblockaden. In den Medien wird regelmäßig berichtet, dass Aktivist:innen zu Geld- oder sogar Freiheitsstrafen (auf Bewährung) verurteilt wurden, aber auch, dass es Freisprüche zugunsten einzelner Aktivist:innen gab. Und dann gibt es Fälle, in denen dasselbe Gericht – allerdings unterschiedliche Richter:innen – hinsichtlich derselben „Klebe-Aktion“ einen Aktivisten freigesprochen und einen anderen verurteilt hat. Warum gibt es so unterschiedliche Gerichtsentscheidungen? Und welche Rolle spielt die Versammlungsfreiheit im Strafrecht?
Die „Klima-Kleber“ und das Strafrecht
Stellt Euch vor, die Letzte Generation führt – wie in den vergangenen Wochen so oft – eine Sitzblockade auf einer Straße in Berlin durch, während die Ampel rot ist. Dabei kleben sich einige Aktivist:innen mit einem Kleber-Sand-Gemisch auf der Straße fest. Die Autofahrer:innen können bei Grün nicht mehr weiterfahren und haben auch keine Möglichkeit, die Blockade zu umfahren. Es kommt zu einem Stau von mehreren Stunden. Eines der Ziele der Aktion: den Verkehr zu blockieren, um auf zu hohe Emissionen im Verkehrssektor aufmerksam zu machen und damit Druck auf die Bundesregierung auszuüben, die von der Letzten Generation geforderten Klimaschutzmaßnahmen einzuleiten.
In diesem konkreten Fall haben die Aktivist:innen sich wegen sogenannter Nötigung im Straßenverkehr strafbar gemacht. In § 240 Absatz 1 Strafgesetzbuch (StGB) steht:
„Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
Die Aktivist:innen bringen durch ihre Sitzblockade die Autofahrer:innen dazu, dass diese bei grüner Ampel ihre Fahrt nicht fortsetzen können. Schwierig scheint hier der Begriff „mit Gewalt“, denn die Aktivist:innen setzen sich ja nur hin und kleben sich teilweise fest. Gegenüber den Autofahrer:innen üben sie nur psychische Gewalt aus, weil diese sich an der Weiterfahrt nur gehindert fühlen, um die Festgeklebten nicht zu überfahren. Dass die Errichtung von Sitzblockaden „Gewalt“ im Sinne von § 240 StGB ist, haben der Bundesgerichtshof (BGH) und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nach vielen umstrittenen Fällen entschieden. In der Kurzfassung funktioniert diese etwas eigenartige rechtliche Konstruktion so: Die Aktivist:innen üben durch das Hinsetzen und Festkleben auf die erste Reihe von Autofahrer:innen psychischen Zwang (= eine Form von Gewalt) aus, damit diese nicht weiterfahren. Die deshalb stehengebliebenen Autos blockieren folglich die Weiterfahrt für die Dahinterfahrenden, sodass die Aktivist:innen diese erste Reihe an Autos „als Werkzeug“ nutzen, um damit auf die auf die dahinterfahrenden Personen physischen, also körperlichen, Zwang auszuüben.
Für eine Verurteilung kommt es nun aber entscheidend auf § 240 Absatz 2 StGB an, welcher besagt:
„Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.“
Das Verhalten der Aktivist:innen ist im Grundsatz deshalb rechtswidrig, weil sie die Autofahrenden nicht einfach anhalten dürfen, anders als z.B. die Polizei bei einer Verkehrskontrolle. Allerdings reicht dies für eine Verurteilung nach § 240 StGB nicht aus, denn sonst wären viele Verhaltensweisen als Nötigung strafbar und das wäre häufig nicht verhältnismäßig. Um das zu verhindern, gibt es Absatz 2. Es bedarf also einer besonderen „Verwerflichkeit“ des „angewendeten Mittel“ im Verhältnis zum verfolgten „Zweck“. Konkret bedeutet das in unserem Fall: Die Aktivist:innen wenden „Gewalt“ durch Errichtung einer Sitzblockade (= Mittel) an, um zu demonstrieren (= Zweck). Ist das nun „verwerflich“? Die Rechtsprechung definiert die „Verwerflichkeit“ als Verknüpfung des Mittels mit einem Zweck, der nach allgemeiner Auffassung sittlich zu missbilligen bzw. sozial unerträglich ist. Ob dies bei von der Versammlungsfreiheit geschützten Demonstrationen der Fall ist, wird von Gerichten unterschiedlich gesehen. Daher kommt es auch zu unterschiedlichen Verurteilungen der „Klima-Kleber“.
Das Strafrecht und die Versammlungsfreiheit
Es ist somit eine Wertungsfrage in jedem einzelnen Fall. Hierbei müssen von den Richter:innen alle betroffenen Interessen gegeneinander abgewogen werden. An dieser Stelle kommt nun die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) ins Spiel. Wie bereits in Teil 1 festgestellt, sind Sitzblockaden Versammlungen im Sinne des Grundgesetzes. Dieser Schutz durch die Versammlungsfreiheit muss bei der Entscheidung über die Verwerflichkeit berücksichtigt werden. Das liegt daran, dass alle Richter:innen in Deutschland an Grundrechte gebunden sind und diese bei jeder Entscheidung berücksichtigen müssen (siehe Art. 1 Abs. 3 GG). Durch Versammlungen werden regelmäßig Rechte von anderen Personen beeinträchtigt, z.B. durch vorübergehende Straßensperrung wegen eines Demonstrationszugs oder Kundgebungen auf öffentlichen Plätzen. Solche Unannehmlichkeiten müssen andere Personen hinnehmen; das gewährleistet gerade die Versammlungsfreiheit (siehe erneut Teil 1). Sind solche Beeinträchtigungen unvermeidbare Nebenfolge einer Versammlung, dann ist das in Ordnung und nicht verwerflich, d.h. auch nicht strafbar. Wird jedoch die Versammlungsfreiheit gezielt genutzt, um Dritte zu behindern, dann ist das höchst wahrscheinlich verwerflich und damit auch strafbar. Allerdings gibt es keine klare Trennlinie und es kommt letztlich immer auf die ganz konkreten Umstände an. Jede:r Strafrichter:in muss also Umstände, wie den Ort (z.B. Nebenstraße oder Verkehrsknotenpunkt) oder den Zeitpunkt (z.B. während der rush hour), die Blockadedauer (wenige Minuten oder mehrere Stunden) und Umfahrungsmöglichkeiten auf der einen Seite und die Versammlungsfreiheit – ein wichtiges demokratisches Grundrecht – auf der anderen Seite bei der Beurteilung der Verwerflichkeit berücksichtigen.
„Klimaschutz“ als besonderes Ziel?
Dabei stellt sich auch die Frage, ob das konkrete Demonstrationsanliegen – Klimaschutz – bei der Beurteilung zu berücksichtigen ist. In unserem Fall blockieren die Aktivist:innen ganz bewusst eine Straße, um auf die zu hohen Emissionen im Verkehrssektor und die fehlenden Klimaschutzbemühungen aufmerksam zu machen. Für die Verwerflichkeit im Strafrecht, die eine Beurteilung des Einsatzes eines bestimmten Mittels (= Sitzblockade) zu einem bestimmten Zweck (= demonstrieren) ist, kommt es bei der Bewertung der Verwerflichkeit nicht auf das konkrete Demonstrationsthema an. Dass der Klimaschutz und die Einhaltung der Klimaziele legitime Anliegen sind, welche auch vom BVerfG in seinem Klimabeschluss im März 2021 (hier geht’s zu unserem Blogbeitrag zum Klimabeschluss) anerkannt wurden, kann und darf die Bewertung der Verwerflichkeit nicht beeinflussen, denn sonst würde das Demonstrationsanliegen inhaltlich bewertet werden. Das Anliegen spielt bei der strafrechtlichen Bewertung, also ob die Sitzblockade und das Sich-Festkleben, um auf diese Art und Weise zu demonstrieren, verwerflich ist, keine Rolle. Das Gericht kann jedoch bei der Strafzumessung, also der Entscheidung über eine Geld- oder Freiheitsstrafe und deren Höhe, berücksichtigen, dass die Aktivist:innen von ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch machen. Dabei darf auch das Motiv – Klimaschutz, verfassungsrechtlich anerkannt in Art. 20a GG – positiv berücksichtigt werden, sodass im Endeffekt eine milde Strafe zu verhängen ist.
Zusammenfassung
Im Ergebnis lässt sich festhalten: Sind Beeinträchtigungen für andere eher gering und gerade eine typische Folge der gewählten Art der Demonstration sowie der Ort der Sitzblockade eng mit dem Demonstrationsanliegen verknüpft – wie Klimaschutz und Straßenverkehr –, dann muss die Verwerflichkeit wohl verneint und eine Strafbarkeit der Aktivist:innen abgelehnt werden. Was aber geringe Beeinträchtigungen sind (z.B. nur 30 Minuten oder noch 2 Stunden Blockadezeit), ist eine Wertungsfrage und hängt von vielen Umständen ab. Es gibt Kriterien, anhand derer die Strafbarkeit gemessen und abgewogen werden kann. Allerdings hat jede „Klebe-Aktion“ der Letzten Generation unterschiedliche Auswirkungen und die einzelnen Umstände sowie die Bedeutung der Versammlungsfreiheit bei § 240 Absatz 2 StGB werden von Richter:innen unterschiedlich gewichtet. Von dieser Gewichtung ist dann einerseits die Strafbarkeit und andererseits die Art und Höhe der Verurteilung von Aktivist:innen der Letzten Generation abhängig. Art. 8 GG spielt bei dieser Abwägung eine wichtige Rolle, steht einer Verurteilung aber nicht generell entgegen. Man kann also von seiner Versammlungsfreiheit Gebrauch machen, aber zugleich strafrechtlich verfolgt und verurteilt werden.
Abschließend noch eine kurze Ergänzung zu den Begriffen „Klimanotstand“ und „ziviler Ungehorsam“, die immer wieder als „Rechtfertigungsgründe“ genannt werden. Der „zivile Ungehorsam“ ist kein strafrechtlich anerkannter Rechtfertigungsgrund, wie z.B. die Notwehr, der eine Strafbarkeit der Aktivist:innen entfallen lassen könnte. Dasselbe gilt für den „Klimanotstand“, der nicht vom strafrechtlichen Notstand (§ 34 StGB) erfasst ist und auch keinen neuen Rechtfertigungsgrund schafft.