Seit 2017 können homosexuelle Paare in Deutschland eine Ehe schließen. Das war zuvor nur heterosexuellen Paaren möglich. Im Jahr 2017 wurde mit dem sogenannten Eheöffnungsgesetz die „Ehe für alle” eingeführt. Dieses Gesetz sollte dazu beitragen, dass homosexuelle Menschen nicht aufgrund ihrer sexuellen Identität ungleichbehandelt werden, wenn es um die Ehe und andere gesellschaftliche Bereiche geht. Es gilt deshalb als besonders wichtiger Erfolg im Kampf für die Beseitigung von Ungleichbehandlungen aufgrund der sexuellen Identität und sexuellen Orientierung.
Homosexuelle Menschen werden also durchaus ein Stück weit gesetzlich vor Diskriminierung geschützt. Das Spannende dabei ist: Das Grundgesetz erwähnt die sexuelle Identität und sexuelle Orientierung eines Menschen an keiner Stelle. Vor allem Artikel 3 des Grundgesetzes, der die wichtigsten Diskriminierungsverbote festschreibt, erwähnt die Begriffe mit keinem Wort.
Verbot der Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts: Artikel 3 Grundgesetz
In Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 Grundgesetz steht:
„Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Ausdrücklich werden nur Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts verboten. Sexuelle Identität und Orientierung kommen nicht vor.
Aber ist das nicht das Gleiche? Und muss die sexuelle Identität bzw. Orientierung eines Menschen nicht automatisch auch geschützt sein, wenn das Geschlecht der Person geschützt ist?
Auf diese Fragen geben wir in diesem Blog-Beitrag Antworten und erklären, ob und wie das Grundgesetz die sexuelle Identität und Orientierung von Menschen besonders gegen Diskriminierung schützt.
Geschlecht, sexuelle Identität, sexuelle Orientierung – ist das nicht alles das gleiche?
Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz schützt uns davor, wegen unseres Geschlechts benachteiligt zu werden. Wichtig ist, dass der Begriff Geschlecht in Artikel 3 Absatz 3 nicht nur männlich oder weiblich bedeutet. Vielmehr ist jede Person vor Ungleichbehandlungen geschützt, egal ob sie
– sich dem weiblichen Geschlecht oder dem männlichen Geschlecht zuordnet,
– sich keinem der beiden Geschlechter zuordnet (das wird dann oft nicht-binär genannt),
– bevorzugt, eine dritte, zwischengeschlechtliche Geschlechtsform (z.B. divers) für sich in Anspruch zu nehmen, oder
– die eigene bisherige Geschlechtszuweisung an das empfundene Geschlecht anpassen möchte (Transsexualität).
LS – GGV-Blog, Verfassung, Grundrechte, Menschenwürde
Das eigene Geschlecht und die Festlegung des eigenen Geschlechts sind Teil der sexuellen Identität. Unser Grundgesetz geht davon aus, dass jeder Mensch sein empfundenes Geschlecht als Teil seiner eigenen sexuellen Identität selbst bestimmten darf.
Ein besonders wichtiges Beispiel für den grundrechtlichen Schutz der sexuellen Identität ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017.
Bis zu diesem Urteil mussten neugeborene Kinder, die weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht eindeutig zugeordnet werden konnten (intersexuelle Personen), ohne eine Geschlechtsangabe im Personenstandsregister eingetragen werden. Das bedeutete, dass intersexuelle Personen dann ohne Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde, im Personalausweis und im Reisepass zurechtkommen mussten. Das Bundesverfassungsgericht sah darin aber einen Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz und urteilte, dass intersexuelle Personen nicht den Eindruck hinnehmen müssten, sie hätten kein Geschlecht. Das Personenstandsgesetz wurde daraufhin angepasst: Seitdem können intersexuelle Personen als divers eingetragen werden.
Aber was ist dann die sexuelle Orientierung?
Die sexuelle Orientierung ist auch ein Teil der sexuellen Identität. Sie beschreibt die Ausrichtung der sexuellen Bedürfnisse einer Person auf andere Personen. Die typischen Grundrichtungen der sexuellen Orientierung sind die gleichgeschlechtliche Orientierung (Homosexualität), die gegengeschlechtliche Orientierung (Heterosexualität) und die auf mehrere Geschlechter bezogene Orientierung (z.B. Bi- oder Pansexualität).
Sexuelle Identität und sexuelle Orientierung sind nicht unmittelbar von Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz geschützt
Soweit es um die Selbstbestimmung eines Menschen im Hinblick auf das eigene Geschlecht geht, ist die sexuelle Identität also vom Diskriminierungsschutz in Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz erfasst.
Darüber hinaus werden die sexuelle Identität und auch die sexuelle Orientierung eines Menschen aber nicht von Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz genannt. Auch das Bundesverfassungsgericht ist deshalb der Meinung, dass Artikel 3 Absatz 3 die sexuelle Identität in nicht allumfassend vor Ungleichbehandlung schützt. Genauso ist die sexuelle Orientierung nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts nicht konkret von Artikel 3 Absatz 3 geschützt.
Trotzdem behandelt das Bundesverfassungsgericht z.B. Fälle, in denen es darum geht, ob homosexuelle Paare schlechter gestellt werden als heterosexuelle Paare, schon seit vielen Jahren immer wieder beinahe genau so, als wäre Artikel 3 Absatz 3 anwendbar.
Viele Menschen sind deshalb der Meinung, die sexuelle Orientierung eines Menschen müsse als ungeschriebenes Merkmal unter dem besonderen Diskriminierungsschutz von Artikel 3 Absatz 3 anerkannt werden. Sie argumentieren damit, dass nur so die Gleichbehandlung aller nicht heterosexuellen Menschen durch eine klare und sichere Rechtslage gestärkt und geschützt werden kann. Außerdem sei die sexuelle Orientierung eines Menschen häufig ausschlaggebend für die Selbstverwirklichung, die Selbst- und Fremdwahrnehmung und das soziale bzw. emotionale Wohlbefinden einer Person in der Gesellschaft. Deshalb sei der Schutz der sexuellen Orientierung genauso wie der Schutz des Geschlechts besonders wichtig.
Anträge zur Grundgesetzänderung bislang gescheitert – aber es bleibt spannend
Bisherige Anträge zur Änderung des Grundgesetzes, sodass Artikel 3 Absatz 3 auch die sexuelle Identität oder die sexuelle Orientierung ausdrücklich mit einbezieht, sind gescheitert. Auch die Rechtsprechung hat ihr Verständnis von Artikel 3 Absatz 3 noch nicht geändert.
Es kommt aber immer wieder zu Gerichtsverfahren, die zeigen, wie wichtig es ist, über den Stellenwert der sexuellen Identität und Orientierung nachzudenken. Und wer weiß, vielleicht wird aufgrund der laufenden Diskussion eines Tages auch die sexuelle Orientierung ausdrücklich unter den Schutz von Artikel 3 Absatz 3 gestellt.
Ganz abwegig erscheint das nicht. Immerhin gibt es einige Verfassungen von Bundesländern in Deutschland, die die sexuelle Identität und/oder die sexuelle Orientierung konkret unter Diskriminierungsschutz stellen (z.B. die Berliner Verfassung, die Brandenburgische Verfassung, die Thüringische Verfassung, die Bremer Verfassung und die Saarländische Verfassung). Auch die Grundrechte-Charta der Europäischen Union verbietet eine Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Ausrichtung einer Person. Es bleibt also spannend.