Vielleicht begegnet Euch im aktuellen Wahlkampf ein Artikel über Ursula von der Leyen, die aktuelle Kommissionspräsidentin. Sie möchte auch für die nächsten fünf Jahre ihr Amt weiter ausüben und wurde deswegen zur Spitzenkandidatin der CDU bestimmt. Auch die Europäische Volkspartei (EVP) hat sie als solche anerkannt.1 Die EVP ist ein Zusammenschluss von christlich-demokratischen und konservativen Parteien in Europa, zu dem auch die CDU gehört.
Spitzenkandidatenmodell Mehr Transparenz beim Top-Personal
Das europäische Spitzenkandidatenmodell ist ein politisches Verfahren zur Wahl des Präsidenten / der Präsidentin der Europäischen Kommission. Die Betonung liegt hier auf dem politischen Verfahren, denn es ist nicht in den Europäischen Verträgen geregelt. Es soll die Legitimität und Transparenz der Auswahl des Präsidenten / der Präsidentin der Europäischen Kommission aber dennoch erhöhen, wie wir gleich noch näher erläutern werden.
Worum geht es konkret? Nach der Wahl des Europäischen Parlaments (EP) wird auch das Top-Personal der Europäischen Kommission neu besetzt, allen voran der/die Präsident:in. Diese wird gem. Artikel 17 Absatz 7 EUV vom Europäischen Rat vorgeschlagen und dann mit der Mehrheit der Mitglieder des EP gewählt. Die Bürger:innen Europas wählen den Präsidenten / die Präsidentin also nicht direkt. In Deutschland ist das übrigens bei der Wahl des Bundeskanzlers / der Bundeskanzlerin ähnlich.2
Das Spitzenkandidatenmodell soll also dazu dienen, die Nähe von Bürger:innen zur Kommission zu erhöhen, indem sich die europäischen Parteienfamilien vor der EP-Wahl auf eine:n Spitzenkandidaten/ Spitzenkandidatin einigen. Der/die Kandidat:in der Partei mit den meisten Stimmen wird dann vom Europäischen Rat vorgeschlagen und vom Parlament gewählt.
Die EP-Wahl wird somit auch zu einer indirekten, personalisierten Abstimmung über die Exekutive. Spitzenkandidaten/-innen sind in der Regel europaweit bekannte Politiker:innen, die im Wahlkampf den Fokus auf europäische Probleme über nationale Grenzen hinweg setzen können. Außerdem ist das Modell gut für die Transparenz auf EU-Ebene. Denn ein/eine Kommissionspräsident:in ist wegweisend für die europäische Politik, nicht nur wegen des Initiativrechts (das Recht, Gesetzesvorschläge einzubringen) der Kommission.
Kritik am Spitzenkandidatenmodell – doch nicht alles Gold was glänzt?
Die Kritik an dem Modell richtet sich gegen die fehlende Verbindlichkeit. Zum ersten Mal wurde es 2014 angewendet. Damals hat der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker große politische Legitimation aus dem Modell gezogen. Aber schon in der darauffolgenden Wahl 2019 wurde Ursula von der Leyen durch einen politischen Kompromiss im Europäischen Rat zur Kommissionspräsidentin berufen. Dies stellt einen klaren Verstoß gegen das Modell dar, denn hiernach hätte eigentlich Manfred Weber (damaliger Spitzenkandidat der EVP) gewählt werden müssen. So etwas ist möglich, weil das Modell eben nicht verbindlich vorgeschrieben ist.
Die möglichen Vorteile werden daher durch die Unvorhersehbarkeit relativiert. Politikverdrossenheit ist nachvollziehbar, wenn Bürger:innen das Gefühl bekommen, dass am Ende Entscheidungen getroffen werden, die sich über das Wahlergebnis hinwegsetzen.
Ein derart drastisches Risiko für die demokratische Legitimation war die Abkehr vom Spitzenkandidatenmodell 2019 wohl nicht. Denn Manfred Weber war EU-weit sicher eher unbekannt und viele Bürger:innen haben die EVP nicht nur deshalb gewählt, weil er Spitzenkandidat war. Zudem war auch Ursula von der Leyen Mitglied der EVP als damals stärkste Fraktion, das Ergebnis der EP-Wahl wurde also vom Europäischen Rat berücksichtigt.
Aber es bleibt doch zu attestieren, dass bei der EP-Wahl ohne das Spitzenkandidatenmodell keine Mitentscheidung über die Top-Positionen in der Kommission möglich ist. Es fehlt der Kommission dann also in diesem Aspekt an institutioneller Bürgernähe.
Keine einheitliche Begriffsbezeichnung: Andere Spitzenkandidaten?
Allein auf deutscher Seite werden beispielsweise auch noch Manfred Weber von der CSU, aktueller Präsident des EP, sowie Katharina Barley von der SPD, aktuelle Vizepräsidentin des EP, als Spitzenkandidat:innen ihrer jeweiligen Parteien bezeichnet. Weder Manfred Weber noch Katharina Barley sind jedoch derzeit im Rennen für die Kommissionspräsidentschaft, sondern sie treten „nur“ als prominenteste Politiker:innen ihrer nationalen Parteien an, um sie im EP-Wahlkampf zu repräsentieren. Die doppelte Verwendung des Begriffs Spitzenkandidat:in ist hier irreführend.
Was soll das alles?
Das Spitzenkandidatenmodell kann als Sinnbild für die Europäische Union gesehen werden. Es ist gut gemeint, aber letztlich kompliziert, uneinheitlich und unverbindlich. Es könnte sinnvoll sein, das Verfahren verbindlich zu gestalten, um die demokratische Legitimation der wichtigsten europäischen Behörde zu verbessern. Außerdem könnte es dazu beitragen, eine europäische Öffentlichkeit zu formen, die sich über europäische Probleme austauscht oder zumindest die notorisch geringe Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen zu erhöhen. Das Für und Wider kann man nach Herzenslust und mit vielen guten Argumenten diskutieren.
Aber dabei sollte man nicht vergessen, dass die Komplexität von Europa kein Versehen ist. In dem Gefüge der Europäischen Union gibt es unzählige widerstreitende Interessen. Die Flexibilität des Systems erlaubt es, die verschiedenen Bedürfnisse zu berücksichtigen und ermöglicht kreative Kompromisse, insbesondere um das Machtverhältnis zwischen den vielen Mitgliedstaaten zu erhalten. Und dieser Ausgleich ist für den Bestand der Europäischen Union überlebensnotwendig. Losgelöst vom Spitzenkandidatenmodell muss man im Zusammenhang mit der Europäischen Union ihre Komplexität aushalten, wenn man möchte, dass ein Konstrukt aus 27 Staaten funktioniert und erhalten bleibt.