Oft liest oder hört man, dass eine bestimmte Partei, Koalition oder Regierung im Parlament „die Mehrheit“ hat. Damit ist gemeint, dass die Mitglieder einer Fraktion (oder im Fall der Koalition auch mehrerer Fraktionen) zusammengezählt mehr als 50% der Mitglieder des Parlaments ausmachen. Fraktionen im Parlament sind freiwillige Zusammenschlüsse von Abgeordneten, die ähnliche politische Ziele haben und gemeinsam verfolgen wollen. Typischerweise bilden die Abgeordneten einer politischen Partei eine gemeinsame Fraktion (also etwa die CDU- oder SPD-Fraktion), wobei Fraktion und Partei zwei voneinander unabhängige Dinge sind.
Wenn diese Abgeordneten alle zu einer Abstimmung erscheinen und einheitlich mit ja oder nein stimmen, können sie zusammen den Ausgang der Abstimmung entscheiden; sie können nicht nur jeden im Parlament diskutierten Vorschlag ablehnen, sondern bei fast allen Abstimmungen auch gezielt die Zustimmung für einen bestimmten Vorschlag herstellen, etwa für ein neues Gesetz. Außer wenn, wie etwa bei Grundgesetzänderungen, ausnahmsweise eine “absolute Zweidrittelmehrheit” erforderlich ist, benötigt die Parlamentsmehrheit Unterstützung von weiteren Abgeordneten. Kurz gesagt: mit einer Mehrheit im Parlament kann man seine politischen Ziele in der Regel umsetzen.
Freiheit und Fraktionsdisziplin
Man sollte aber immer im Hinterkopf behalten, dass jede:r einzelne Abgeordnete stets frei mit Ja oder Nein stimmen kann, so wie die Person es in dem Moment der Abstimmung für richtig hält. Sie ist nicht Vertreter ihrer Partei oder Fraktion, sondern – wie es Art. 38 Abs. 1 GG formuliert – „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. In einem demokratischen Parlament kontrolliert also niemand die Mehrheit, es gibt nur freie Abgeordnete mit jeweils gleichem Stimmrecht. Wenn man also sagt, eine Partei oder auch eine Regierung habe die Parlamentsmehrheit „hinter sich“, beruht das letztlich allein auf der Hoffnung, dass die entsprechenden Abgeordneten im Sinne der Partei oder der Regierung abstimmen werden. Diese Hoffnung ist in der politischen Realität berechtigt, weil Abgeordnete einer Fraktion meistens gleich abstimmen. Dieses gleiche Abstimmungsverhalten nennt man „Fraktionsdisziplin“ – und es kann schnell den Anschein erwecken, die Abstimmungsentscheidung des einzelnen Abgeordneten wäre nicht frei.
Viele Abgeordnete wollen die Regierung allerdings freiwillig unterstützen, weil sie sich davon (berechtigterweise) erhoffen, ihre politischen Ziele besser erreichen zu können. Das führt zu einem besonderen Verhältnis von Regierung und diesen Abgeordneten, der sogenannten „Regierungsmehrheit“. Die Regierung kann – jedenfalls nach unserem traditionellen Verständnis – nur sinnvoll arbeiten, wenn sie sich auf die Unterstützung einer festen Mehrheit im Parlament verlassen kann. Wirklich umsetzen können auch die Parlamentarier:innen ihre politischen Ziele aber oft nur, wenn sie mit der Regierung „in die gleiche Richtung laufen“. Genau das soll durch Koalitionsvereinbarungen erreicht werden. Gerade weil die Abgeordneten frei sind, dürfen sie ihr Abstimmungsverhalten miteinander koordinieren und zum Beispiel einzelne Projekte oder auch die Arbeit der Regierung insgesamt unterstützen. Sie dürfen dabei auch Kompromisse eingehen. Das widerspricht nicht der Freiheit ihres Mandats, solange sie es sich jederzeit anders überlegen können.
Vertrauensverhältnis zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit
Zwischen Regierungsmehrheit und Regierung ist also ein gewisses Vertrauen erforderlich. Die Abgeordneten vertrauen darauf, dass die Regierung so handelt, wie es beispielsweise im Koalitionsvertrag vereinbart worden ist. Die Regierung vertraut im Gegenzug darauf, dass die Abgeordneten in ihrem Sinne abstimmen werden. Dieses besondere Vertrauensverhältnis zeigt sich etwa darin, dass die Abgeordneten den/die Bundeskanzler:in ins Amt wählen. In Deutschland wird der/die Kanzler:in nicht direkt vom Volk gewählt, sondern erst nach der Bundestagswahl durch die neu gewählten Abgeordneten (auch wenn man gelegentlich einen anderen Eindruck bekommen kann, weil die Kanzlerkandidat:innen bei der Bundestagswahl sehr präsent sind). Das hat auch den Hintergrund, dass nur eine Person, die eine Mehrheit der Mitglieder des neuen Bundestages hinter sich hat, Kanzler:in werden soll. Würde der/die Kanzler:in direkt vom Volk gewählt, wäre dies nicht sichergestellt.
Daher sollen die potenziellen Kandidat:innen nach der Bundestagswahl versuchen, möglichst viele der neuen Abgeordneten hinter sich zu versammeln. Sie müssen dabei typischerweise über die eigenen Parteigrenzen hinaus nach Unterstützung suchen. Die Fraktionen bzw. die dahinter stehenden politischen Parteien spielen hier wieder eine wichtige Rolle, weil sie in gewisser Weise für eine Vielzahl von Abgeordneten sprechen können. Hat ein:e Kandidat:in es (regelmäßig über die entsprechenden Fraktionen) geschafft, mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestags für sich zu gewinnen, wird sie von dem/der Bundespräsident:in zur Wahl vorgeschlagen und dann von ihren Unterstützer:innen gewählt.
Gelingt dies nicht, gibt es eine ernstzunehmende Krise. Die Person, die immerhin noch die meisten Unterstützer:innen im Bundestag hat, kann dann zwar trotzdem Kanzler:in werden (gemäß Art. 63 Abs. 4 GG – „dritter Wahlgang“), aber ob eine solche Minderheitsregierung sinnvoll und effektiv arbeiten zu arbeiten vermag, kann niemand sicher sagen. Der/die Bundespräsident:in kann daher auch Neuwahlen herbeiführen in der Hoffnung, dass danach eine stabile Regierungsmehrheit zustande kommt.
Aber auch, wenn alles zunächst gut gelaufen ist und der/die Kanzler:in eine stabile Regierungsmehrheit hinter sich hat, kann das Vertrauensverhältnis mit der Zeit erschüttert werden. Der/die Kanzler:in kann sich des Rückhalts im Parlament mithilfe der sogenannten „Vertrauensfrage“ (Art. 68 GG) versichern. Dabei wird durch eine Abstimmung im Bundestag geprüft, ob die Mehrheit der Mitglieder noch Vertrauen zu dem/der Kanzler:in hat. Auch die Abgeordneten selbst können aktiv werden und im Rahmen des sogenannten „Misstrauensvotums“ (Art. 67 GG) eine andere Person zum/zur Kanzler:in wählen, wenn sie dem/der Amtsinhaber:in nicht mehr vertrauen.
Parlamentarische Mehrheit und Regierung hängen also eng zusammen, ohne dass sie sich gegenseitig direkt kontrollieren könnten. Diese Unabhängigkeit ist ein wichtiger Teil der Gewaltenteilung, die wiederum ein zentraler Baustein im Aufbau des Staates ist. Die Regierung steht an der Spitze der Exekutive, soll also Gesetze ausführen. Der Bundestag gehört der Legislative an, erlässt die Gesetze, an welche die Regierung gebunden ist. Trotzdem ist es die Regierung, welche die Politik aktiv gestaltet und einen ganz wesentlichen Teil der Gesetze vorschlägt. Insbesondere der/die Kanzler:in soll die „Richtlinien der Politik“ bestimmen (Art. 65 Abs. 1 GG).
Zusammenarbeit als Teil des demokratischen Prozesses
Es gibt also in Wirklichkeit keine klare Gewaltentrennung, sondern ein kompliziertes Zusammenspiel aus gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Kontrolle. Das alles erscheint manchmal verworren und lässt politische Vorgänge zäh und mitunter frustrierend langsam erscheinen. Dieses Zusammenspiel dient aber einem wichtigen Zweck: der Demokratie. Demokratische Entscheidungen werden mehrheitlich getroffen, das heißt der Vorschlag mit der meisten Zustimmung setzt sich durch. Es gibt jedoch Grenzen für das, was die Mehrheit tun kann. Demokratie heißt „Herrschaft des Volkes“, und das muss man auch so verstehen, dass es keine reine Herrschaft der Mehrheit geben darf. Weder die Parlamentsmehrheit noch die mehrheitlich gewählte Regierung herrschen allein, denn die Mehrheit ist ja nie das ganze „Volk“, sondern eben nur ein Teil. Nicht alles, was die Mehrheit will, ist also auch demokratisch.
Dass die Regierung auf eine Mehrheit im Parlament angewiesen ist, bedeutet zum einen, dass sie sich nicht allein um das Interesse von Wenigen kümmern kann, sondern das „Allgemeinwohl“ im Blick haben muss. Man könnte auch sagen: Sie darf kein einzelnes Interesse zu stark vernachlässigen. Setzt sich die Regierung allein für das Wohl eines kleinen Teils der Gesellschaft ein, wird sie schnell das Vertrauen der Parlamentsmehrheit verlieren, weil diese ja bei der nächsten Wahl von möglichst vielen Menschen gewählt werden will. Zum anderen kann sich die Regierung nie absolut sicher sein, bis zum Ende der Legislatur „durchregieren“ zu können. Sie muss immer auch aktuelle Entwicklungen und Stimmungen in der Bevölkerung und im Parlament (das ja in gewisser Weise ein Spiegel der Bevölkerung sein soll) beachten. Eine Minderheitsmeinung im Parlament kann auch während der Legislaturperiode schnell zur Mehrheit werden, was vielleicht das Ende der Regierung bedeuten kann.
Das besondere Verhältnis von Mehrheit im Parlamentsmehrheit und Regierung ist also Ausdruck der Demokratie. Mitunter langwierige Phasen der Mehrheitsfindung im Parlament sind Zeichen dafür, dass die Demokratie funktioniert. Genauso ist der Umstand, dass sich die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse typischerweise nicht ändern, d. h. die Abgeordneten regelmäßig ihren Fraktionen und Parteien „treu bleiben“, noch kein demokratisches Problem. Ein beständig und stabil arbeitendes Parlament ist wünschenswert, ebenso wichtig ist jedoch auch, dass sich die Mehrheiten im Parlament jederzeit ändern können.