In Bayern fand das Grundgesetz vor 75 Jahren bekanntlich keine Zustimmung. Grund: Die Mehrheit des Landtags sah dadurch die Eigenständigkeit des Freistaates gefährdet. Und auch heute finden sich insbesondere, aber nicht nur in der bayerischen Verfassung noch zahlreiche landestypische Eigenheiten. Zeit also, einen Blick in die vielen Verfassungen der deutschen Bundesländer zu werfen.
16 Staaten1 und der Bund
Manche Landesverfassungen haben ihren 75. Geburtstag schon hinter sich (so die hessische von 1946), andere gehen gerade erst auf die 30 Jahre zu (so die Berlins von 1995). Altersunabhängig entfalten diese Verfassungen zunächst einmal als eigenständige Dokumente – wie das Grundgesetz – Rechtswirkung in den Ländern, denn die deutschen Länder sind eigenständige Staaten. Vereinfacht bedeutet das: Sie können selbst Recht setzen und dieses Recht notfalls auch mit Gewalt durch eigene staatliche Stellen, z.B. die Polizei, durchsetzen. Mit der Staatsgewalt der Länder geht zugleich eine Verantwortung gegenüber den Bürger:innen einher, die dem gesetzten Recht unterworfen sind. Wie der Bund selbst brauchen deshalb auch die Bundesländer Regeln für ihre Struktur und Organisation – und auch vor der Staatsgewalt der Länder müssen die Landesbürger:innen durch Grundrechte geschützt werden.
Aus dem Fundus der Landesverfassungen
Wie drückt sich dieses System, das wir Föderalismus nennen, nun konkret aus? Inbegriff der Eigenständigkeit der Länder ist für viele sicherlich die Kultusministerkonferenz, bei der die für Schule und Bildung zuständigen Landesminister:innen zusammen kommen und sich – mal mehr, mal weniger intensiv – koordinieren. Dass die Bundesländer in vielen Bereichen „ihr eigenes Süppchen kochen“, ist dabei kein Versehen, sondern von Grundgesetz und Landesverfassungen gerade beabsichtigt. So ist die Gesetzgebung in erster Linie Sache der Länder (Art. 70 des Grundgesetzes) und schon die Regeln für das Zustandekommen von Gesetzen können sich von denen auf Bundesebene unterscheiden. Auf Landesebene ist beispielsweise eine Gesetzgebung durch Volksabstimmungen möglich. Und damit kommen wir endlich zum Freistaat Bayern zurück: Dass beispielsweise in bayerischen Kneipen nicht geraucht werden darf, ist das Ergebnis eines Volksentscheides aus dem Jahr 2010.
Und auch der Grundrechtsschutz kann in den Ländern weitergehen als auf Bundesebene. Hier nochmals Bayern: Die dortige Verfassung stellt den „Genuss der Naturschönheiten und die Erholung in der freien Natur“ (Art. 141 Bayerische Verfassung) ausdrücklich unter Schutz. Moderner – oder je nach Sichtweise weniger zeitlos – mutet dagegen die Berliner Verfassung an, die den privaten Datenschutz als Recht gewährleistet (Art. 33 der Verfassung des Landes Berlin).
Zweierlei Maß in den Bundesländern
Wie verhalten sich diese Eigenheiten der Länder zu den Vorgaben des Grundgesetzes? Natürlich müssen sich auch alle Handlungen der Länder am Grundgesetz messen lassen (inklusive Bayern, trotz dereinst verweigerter Zustimmung). Die Bundesverfassung gewährt vereinfacht einen „Mindeststandard“, den die Länder nicht unterschreiten dürfen. Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Noch bis 2018 war nach der Hessischen Verfassung die Todesstrafe erlaubt (Art. 21). Das Grundgesetz legt dagegen in Art. 102 fest, dass die Todesstrafe abgeschafft ist. Die Hessische Verfassung widersprach also lange Zeit dem Grundgesetz – und war deshalb in diesem Punkt unwirksam.
Unwirksam sind in den Landesverfassungen aber nur solche Normen, die dem Grundgesetz widersprechen. Regelungen, die – wie der Naturgenuss oder der Datenschutz – die Rechte der Landesbürger:innen ergänzen oder erweitern, sind dagegen wirksam. Die Verfassungen der Länder müssen sich also zu einem bestimmten Maß an das Grundgesetz halten, dürfen darüber hinaus aber auch eigene Regeln aufstellen. Umgekehrt können die Landesverfassungen dem Bund aber keine Vorgaben machen. So muss der Deutsche Bundestag etwa den Genuss der Naturschönheiten nicht in demselben Maße schützen wie der Bayerische Landtag.
Für das Verhältnis von Bundes- und Landesverfassung gilt also: Der Bund muss sich an die Vorgaben des Grundgesetzes halten, nicht aber an die der Landesverfassungen. Die Länder müssen sich ihrerseits an das Grundgesetz und daneben auch an die Regelungen ihrer jeweiligen Landesverfassungen.
- Landesverfassung Hessen, Landesverfassung Bayern, Landesverfassung Rheinland-Pfalz, Landesverfassung Bremen, Landesverfassung Saarland, Landesverfassung Schleswig-Holstein, Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, Landesverfassung Hamburg, Landesverfassung Baden-Württemberg, Landesverfassung Sachsen, Landesverfassung Sachsen-Anhalt, Landesverfassung Brandenburg, Landesverfassung Niedersachsen, Landesverfassung Thüringen, Landesverfassung Mecklenburg-Vorpommern, Landesverfassung Berlin. ↩︎