In Deutschland leben wir in einer Demokratie, weil wir unsere Bundestagsabgeordneten Abgeordneten wählen. Viele Menschen würden diesen Satz sofort unterschreiben. Auch für mich waren die Begriffe Demokratie und Wahlen zwingend miteinander verknüpft. Ich bin davon ausgegangen, dass ein Land, das nicht wählt, keine Demokratie sein kann.
Dass dieser Satz in seiner Absolutheit aber gar nicht stimmt, hat mir ein spannendes Gespräch mit Philip, einem ehemaligen Kommilitonen, gezeigt. Das gesamte Gespräch habe ich aufgeschrieben und ihr könnt es hier lesen. In diesem Beitrag fasse ich es zusammen.
Zunächst haben wir grundlegend über Demokratie gesprochen. Demokratie ist die Herrschaft des Volkes (vgl. Art. 20 II 1 GG). Es herrscht also nicht, wie früher, eine Königsfamilie oder wie in anderen Teilen der Welt ein Diktator, sondern alle Menschen zusammen. Bereits hier fällt auf, dass „Wahlen“ gar nicht in der Definition vorkommen. Ist es also möglich, unsere Herrschaft auch anders auszuüben?
Bevor wir über mögliche Alternativen gesprochen haben, hat Philip noch erklärt, was wir in Deutschland eigentlich meinen, wenn wir über Demokratie sprechen. Deutschland ist nämlich eine parlamentarische Demokratie. Das bedeutet konkret, dass wir Parlamentarier:innen durch Wahlen bestimmen, die für uns in einem Parlament (also dem deutschen Bundestag und den Landtagen) Gesetze erlassen. Dieses System nennt man auch indirekte oder repräsentative Demokratie, weil wir unsere Macht übertragen.
Laut Philip funktioniert dieses System in Deutschland grundsätzlich gut. Allerdings bringt eine indirekte Demokratie auch einige Probleme mit sich, mit denen sich Philip beschäftigt. So fällt zum Beispiel auf, dass der Bundestag nicht sehr divers besetzt ist. Nur ein Drittel der Abgeordneten sind weiblich, die meisten haben studiert und akademische Berufe ergriffen. Natürlich wollen die allermeisten Parlamentarier:innen ihre Herrschaft im Interesse aller Wähler:innen ausüben, also auch im Interesse der Gruppen, denen sie nicht selbst angehören. Allerdings können sich unterrepräsentierte Gruppen schnell ungehört oder nicht vertreten fühlen.
Ein weiteres Problem der parlamentarischen Demokratie liegt darin, dass Parlamentarier:innen wieder gewählt werden möchten. Das ist logisch, da sie sonst ihren Job verlieren würden. Das ist auch grundsätzlich wünschenswert, weil sie dadurch motiviert sind, in unserem Sinne zu handeln. Große Probleme unserer Zeit, wie z.B. die Klimakrise, stellen uns aber ganz oft vor Entscheidungen, die wir am liebsten gar nicht treffen möchten. Gesetze, die langfristig wichtig sind, um z.B. die Klimakrise abzuwenden, sind häufig kurzfristig unbeliebt, weil sie große gesellschaftliche Veränderungen bedeuten . Um die Unbeliebtheit wissen auch unsere Parlamentarier:innen, die daher theoretisch ein Interesse entwickeln könnten, diese Gesetze gar nicht erst zu erlassen, um wiedergewählt zu werden. Es ist also wichtig zu erkennen, dass unser Wahlsystem positive wie auch negative Anreize für die Entscheidungsfindung unserer Parlamentarier:innen schafft. Die Entscheidungsfindung selbst ist natürlich von vielen weiteren Faktoren geprägt, nicht zuletzt persönliche Werte und das eigene Gewissen.
Aufgrund dieser Probleme findet Philip, dass es sich lohnt über Alternativen bzw. Ergänzungen zu unserem Wahlsystem nachzudenken.
Die erste Ergänzung kannte ich bereits: Direkte Demokratie. AWie bei Wahlen, übt das Volk auch in dieser Form der Demokratie seine Herrschaft mit Hilfe von Stimmzetteln aus. Anders als in Deutschland stimmt man aber über Sachfragen ab und nicht über die Wahl von Parlamentarier:innen. Das Ergebnis der Abstimmung kann z.B. der Erlass eines Gesetzes sein. Der wichtigste Vorteil ist , dass alle Wähler:innen die Möglichkeit haben, direkt an der Entstehung des Gesetzes mitzuwirken. Typischerweise ist deswegen auch die Akzeptanz solcher Gesetze besonders hoch. Allerdings erfordert direkte Demokratie auch sehr viel Arbeit von allen Bürger:innen, da sie sich mit vielen Sachfragen auseinandersetzen müssen, um gute und für sie interessengerechte Entscheidungen treffen zu können.
Die zweite Ergänzung sieht auf den ersten Blick verrückt aus, aber ist auch ein ernstzunehmender Vorschlag: Auslosungen. Das Prinzip ist leicht erklärt: Unser Parlament wird nicht mehr gewählt, stattdessen wird durch eine große Auslosung bestimmt, wer für vier Jahre unsere Gesetze macht. Tatsächlich könnten die beiden Probleme, die Philip und ich für die parlamentarische Demokratie identifiziert haben, damit gelöst werden. Zum einen würde eine Auslosung statistisch gesehen dafür sorgen, dass alle gesellschaftlichen Gruppen fair im Parlament vertreten wäre – das Parlament wäre also statistisch repräsentativ. Und zum anderen kann niemand wieder gewählt werden. Also könnten auch kurzfristig unbeliebte, aber notwendige Entscheidungen leichter getroffen werden. In diesem TED Talk wird diese politische Idee gut erklärt.
Ganz so drastisch wie oben dargestellt, möchte Philip das Losverfahren in Deutschland nicht einführen. Schließlich schreibt Art. 20 Abs. 2 GG unter anderem vor, dass die Staatsgewalt vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird. Dieser Grundsatz der Verfassung kann nicht abgeschafft oder geändert werden (vgl. Art. 79 Abs. 3 GG). Ob ein vollständiges Losverfahren daher mit der deutschen Verfassung überhaupt vereinbar ist, ist hochumstritten. Eine vollständige Abschaffung von Wahlen und Abstimmungen würde jedenfalls gegen Art. 20 Abs. 2 GG verstoßen. Daher spricht Philip bewusst von Ergänzungen zu unserem Wahlsystem.Er ist aber überzeugt davon, dass es unter bestimmten Umständen Möglichkeiten dafür gibt, durch ausgeloste Gremiendemokratisch legitime Entscheidungen treffen können. Also solche Entscheidungen, die das ganze Volk akzeptieren könnte und die für alle gelten würden. Tatsächlich gibt es auch in Deutschland bereits ein Experiment , das auf so einem Losverfahren basiert. Wenn euch das interessiert, könnt ihr hier nachschlagen.
Das Gespräch mit Philip hat mir viel Spaß gemacht und ich habe gelernt, dass ein repräsentatives Wahlsystem ein gutes Mittel ist, um eine Demokratie zu gestalten, aber nicht das Einzige und dass über eine Vielzahl von Ergänzungen diskutiert werden kann. Sicher ist für mich, dass unsere Demokratie in Deutschland davon lebt, dass wir daran teilnehmen und sie gestalten. Deswegen lohnt es sich über neue und vielleicht experimentelle Ideen nachzudenken, wie wir unsere Volksherrschaft ausüben wollen und unsere parlamentarische Demokratie für alle verbessern können.