Das Grundgesetz ist am 24. Mai 1949 in Kraft getreten – vor 73 Jahren. Damals war Deutschland noch zweigeteilt, es gab noch kein Internet, keine Ehe für alle und keine Fridays for Future. Der letzte der Abgeordneten des Parlamentarischen Rates, der 1949 das Grundgesetz beschloss, ist schon 2005 gestorben.
Trotzdem gilt das Grundgesetz auch heute noch für uns und regelt, welche Grundrechte wir haben, wie unser Staat aufgebaut ist und wie unser Zusammenleben als Gesellschaft funktionieren soll.
Heißt das also, dass wir eigentlich nach den Regeln eines vollkommen veralteten Gesetzes leben? Ist das Grundgesetz so etwas wie die Herrschaft der Toten über die Lebenden?
Kurz gesagt: Nein. Aber warum nicht?
Das liegt daran, dass das Grundgesetz die Verfassung Deutschlands ist. Es erfüllt deshalb zwei bestimmte, für eine Verfassung typische Funktionen: Einerseits Stabilität und zuverlässiges Funktionieren der Gesellschaft, andererseits Weiterentwicklung mit der Zeit und mit der Veränderung der gesellschaftlichen Gegebenheiten.
Stabilität und Schutz
Damit ein Staat mit vielen Millionen Menschen funktioniert und seine Aufgaben gegenüber seinen Bürger:innen erfüllen kann, ist eine stabile Grundlage an Regeln erforderlich. Ganz grundlegende Fragen, z.B.:
Wer regiert das Land?
Welche Gerichte gibt es?
Wie arbeiten Bundesländer und Bundesstaat zusammen?
Was ist der Regierung und Verwaltung gegenüber den Bürger:innen erlaubt und was nicht?
Welche grundlegenden Einrichtungen (z.B. Schulen, Universitäten) muss der Staat bereitstellen?,
dürfen nicht unbeantwortet bleiben oder jeden Tag neu beantwortet werden. Wäre das der Fall, könnten wir kaum unserem normalen Schul-, Studien- oder Arbeitsalltag nachgehen. Wir müssten ständig damit rechnen, unser Leben an neue Regeln anpassen zu müssen.
Zusätzlich gewährt das Grundgesetz als unsere Verfassung den Bürger:innen Grundrechte. Diese Grundrechte (zum Beispiel das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf körperliche Unversehrtheit, auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlung) dienen vor allem dazu, unsere Freiheit gegen Eingriffe des Staates zu schützen. Denn unser freiheitlich-demokratisches Gesellschaftsleben hängt ganz besonders stark davon ab, dass sich der Staat nicht erlauben darf, uns zu benachteiligen oder zu bestrafen, wenn wir uns nicht so verhalten, wie es zum Beispiel der aktuellen Regierung gefällt. Die Freiheit, uns so zu verhalten, wie wir möchten, solange wir damit nicht die Rechte anderer Menschen verletzen, darf uns nicht weggenommen werden.
Auch bei den Grundrechten handelt es sich also um Rechte, die sich nicht einfach jeden Tag ändern dürfen. Nur eine stabile und verlässliche Regelung als Grundrechte in der Verfassung kann uns den Schutz unserer Freiheit garantieren.
Ganz besonders deutlich wird das an Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Dort steht:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Die Würde des Menschen bedeutet, dass jeder Mensch als ein Wesen zu achten und zu behandeln ist, das darauf angelegt und dazu berechtigt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten. Jeder Mensch muss deshalb als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt werden und darf nicht zum Objekt gemacht werden, also wie eine bloße Sache behandelt werden.
Durch Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes wird diese Menschenwürde zum tragenden Prinzip der Verfassung unseres Staates gemacht. Das bedeutet, dass auch alle anderen Regelungen des Grundgesetzes so verstanden und umgesetzt werden müssen, dass dabei in jedem Fall die Menschenwürde geachtet wird.
All diese Teile des Grundgesetzes, die unser Zusammenleben regeln, unsere Grundrechte verbürgen und an erster Stelle unsere Menschenwürde garantieren, müssen also möglichst stabil, unveränderlich und zuverlässig sein, damit wir etwas davon haben.
Keine starren Regeln: Weiterentwicklung mit der Zeit
Trotzdem ist das Grundgesetz kein starres Regelwerk, das inzwischen vollkommen veraltet ist. Es stellt keine Herrschaft der Toten über die Lebenden dar.
Denn obwohl bestimmte grundsätzliche Regelungen in unserer Verfassung stabil, unveränderlich und zuverlässig sein müssen, um ihre Funktion für uns erfüllen zu können, kann sich das Grundgesetz trotzdem mit der Zeit und mit den Veränderungen unserer Gesellschaft weiterentwickeln.
Das passiert laufend, beispielsweise dadurch, dass der Bundestag das Grundgesetz ausdrücklich ändert. Nachträglich wurde etwa Artikel 20a in das Grundgesetz eingefügt. In diesem Artikel wird der Staat verpflichtet, Umwelt- und Tierschutz aktiv als staatliche Ziele zu verfolgen. Allerdings kann der Bundestag nicht alle Bestandteile des Grundgesetzes nach Belieben ändern. Bestimmte Teile des Grundgesetzes sind vollkommen unabänderlich. Dazu gehört auch der Schutz der Menschenwürde nach Artikel 1 des Grundgesetzes.
Weiterentwicklungen des Grundgesetzes können aber auch dadurch zustande kommen, dass einzelne Begriffe neu verstanden und durch andere Gesetze oder durch Urteile von Gerichten umgesetzt werden.
Das ist zum Beispiel bei der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare passiert. In Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes wird die Ehe besonders geschützt. Bis 2017 durften aber nur verschiedengeschlechtliche Paare eine Ehe schließen, obwohl Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes keine ausdrückliche Beschränkung der Ehe auf verschiedengeschlechtliche Paare enthält. 2017 verabschiedete der Bundestag dann ein Gesetz, dass die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare öffnete. Damit hat sich durch den Wandel in der Gesellschaft und durch die Gesetzgebung auch ein Wandel im Verständnis des Begriffs der Ehe, wie er im Grundgesetz benutzt wird, durchgesetzt. Das Grundgesetz wurde damit weiterentwickelt und an ein modernes Verständnis von Ehe und Partnerschaft angeglichen, ohne dass eine ausdrückliche Änderung von Artikel 6 notwendig war.
Interessanterweise gibt es auch Fälle, in denen die Verfassungen anderer Länder sich gerade in die andere Richtung entwickelt haben: 2014 wurden zum Beispiel die Verfassungen der beiden Länder Slowakei und Kroatien geändert. Der Begriff der Ehe wurde jeweils ausdrücklich festgelegt als die Verbindung (nur) zwischen Mann und Frau. Dieses Beispiel zeigt, dass die Entwicklung, die eine Verfassung erlebt, stark von den Entwicklungen in der jeweiligen Gesellschaft abhängt.
Das Grundgesetz: eine lebendige Verfassung
Verfassungen sind also lebendig und passen sich an die Entwicklungen der Zeit und der Gesellschaft an. Trotzdem garantieren sie die Ordnung und Zuverlässigkeit des alltäglichen Lebens in einem Staat und innerhalb einer Gesellschaft.
Welche aktuellen Themen und Neuerungen unserer Gesellschaft zur Zeit besonders relevant für unsere Verfassung sind, stellen wir Euch in den kommenden Wochen auf unserem GrundGesetzVerstehen-Blog vor. Anhand dieser Themen werden wir zeigen, wie sich das über 70 Jahre alte Grundgesetz mit der Zeit verändert und sich schon in vielen Punkten an unsere moderne Gesellschaft angepasst hat.