Das Grundgesetz wird 75 Jahre alt. Wie jedes andere Gesetz entfaltet das Grundgesetz (auch: GG) seine Wirkung aber vor allem durch seine gerichtliche Durchsetzung. Die Kontrolle der Einhaltung des Grundgesetzes übernimmt das Bundesverfassungsgericht.
Dieses hat gemäß Artikel 92, 93 GG die Aufgabe zu kontrollieren, ob sich die Staatsgewalt an das Grundgesetz hält. Ohne das Bundesverfassungsgericht wäre also die Bedeutung des Grundgesetzes erheblich eingeschränkt. Das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht sind, wie man sieht, eng miteinander verwoben. Deshalb nehmen wir den Geburtstag des Grundgesetzes zum Anlass, auch die Geschichte des Bundesverfassungsgerichts in den Blick zu nehmen.
Das Bundesverfassungsgericht ist schon im Grundgesetz von 1949 vorgesehen. Tatsächlich geschaffen wurde es aber erst im Jahr 1951, nachdem das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) erlassen worden war.1 Gleich im ersten Jahr und noch vor der feierlichen Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts erließ es – genauer der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts – am 9. September 1951 seine erste Entscheidung.
Dass die Entscheidung so schnell getroffen werden konnte, lag daran, dass es sich um einen Beschluss im sog. Eilrechtsschutz handelte (§ 32 BVerfGG). Der Eilrechtsschutz ist eine besondere Form des Rechtsschutzes, um mögliche Verstöße gegen das Grundgesetz schnell und effektiv zu unterbinden. Er soll verhindern, dass der Staat vollendete Tatsachen und schwere Nachteile schafft, bevor sich ein Gericht vertieft – d.h. in einem anschließenden, gründlicheren Verfahren – mit der rechtlichen Problematik auseinandergesetzt hat.
Doch worum genau ging es in diesem ersten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts? Schon ein Blick auf die Beteiligten zeigt, dass der Beschluss sehr lange her ist. Antragssteller war die Badische Landesregierung. Außerdem war noch die Regierung des Landes Württemberg-Baden und die des Landes Württemberg-Hohenzollern beteiligt. Dabei handelt es sich allesamt um Bundesländer, die es in dieser Form heute gar nicht mehr gibt.
Antragsgegenstand war das „Zweite Gesetz über die Neugliederung in den Ländern Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern vom 4. Mai 1951″ (im Folgenden: „Gesetz zur Neugliederung“). Dieses Gesetz sah vor allem vor, dass eine Volksabstimmung darüber stattfinden sollte, ob die Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern zu einem Bundesland vereinigt werden oder ob die alten Länder Baden und Württemberg wiederhergestellt werden sollen (§ 1 Gesetz zur Neugliederung).
Diese erste Entscheidung vom 9. September 1951 zeigt anschaulich, wie der Eilrechtsschutz funktioniert: Zusammengefasst entschied das Bundesverfassungsgericht nämlich, dass es erst im sogenannten Hauptsacheverfahren über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes entscheiden müsse, bevor dieses vollzogen, also angewendet werden dürfe. Bei dem Hauptsacheverfahren handelt es sich um das sich an das Eilverfahren anschließende, reguläre Gerichtsverfahren, das deutlich länger dauert und deshalb eine gründlichere Prüfung zulässt als der Eilrechtsschutz.2 Die Durchführung dieses Verfahrens wäre vor Ablauf der Frist für die im Gesetz zur Neugliederung vorgesehene Volksabstimmung nicht möglich gewesen. Deshalb entschied das Bundesverfassungsgericht, dass das Gesetz zur Neugliederung erst nach einer Entscheidung in der Hauptsache vollzogen werden dürfe.3 Entsprechend beschloss das Gericht in seiner ersten Entscheidung nichts Inhaltliches, sondern sicherte nur den derzeit bestehenden Zustand, um eine tiefgehende verfassungsrechtliche Prüfung zu ermöglichen.
Folge dieses Beschlusses war: Es durfte erstmal nicht in der Volksabstimmung abgestimmt werden und die drei Länder blieben zunächst bestehen. Wäre die Abstimmung in den Ländern über die Neugliederung vor der Hauptsacheentscheidung durchgeführt worden, hätte dies viele Nachteile gehabt: Unter Umständen wäre das Ergebnis durch das gleichzeitig laufende Hauptsacheverfahren beim Bundesverfassungsgericht verfälscht worden; die Wahlberechtigten wären vielleicht aufgrund der öffentlichen Diskussion verwirrt gewesen und die ganze Abstimmung wäre möglicherweise zum Schluss gegenstandslos geworden, falls in der Hauptsache die Unwirksamkeit des Gesetzes festgestellt worden wäre.4
Wie ging es dann weiter? Im Hauptsacheverfahren nach Artikel 93 Abs. 1 Nr. 2, 3 GG entschied das Bundesverfassungsgericht folgendermaßen:5 Obwohl es einzelne Vorschriften des Gesetzes für verfassungswidrig erklärte,6 bestimmte es trotzdem, dass der Durchführung der Volksabstimmung, wie sie in § 2 des Gesetzes zur Neugliederung vorgesehen war, nichts mehr im Weg stünde und die geplante Abstimmung spätestens am 16. Dezember 1951 durchgeführt werden sollte.7
Dies geschah dann fristgerecht am 9. Dezember 1951. Bei der Abstimmung sprachen sich 70 % der Abstimmenden für die Bildung eines einzigen Bundeslandes aus. So wurde aus den drei damaligen Staaten Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern das heutige Baden-Württemberg.8
Seitdem sind viele Jahre vergangen und die Fragen, über die das Bundesverfassungsgericht entscheiden muss, sind heute andere. Weiterhin geht es aber um die wichtigsten Fragen mit Blick auf die Grundrechte und die verfassungsrechtliche Organisation der Bundesrepublik.
- Ein ausführlicher Zeitstrahl zur Geschichte des Bundesverfassungsgerichts findet sich unter: https//www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Das-Gericht/Zeitstrahl/zeitstrahl_node.html ↩︎
- BVerfGE 1, 1. ↩︎
- BVerfGE 1, 1 f. ↩︎
- BVerfGE 1, 2. ↩︎
- BVerfGE 1, 14 Tenor II, 2. ↩︎
- BVerfGE 1, 14 Tenor II, 2. ↩︎
- BVerfGE 1, 14, 65 f. ↩︎
- https://www.baden-wuerttemberg.de/unser-land/geschichte/entstehung-des-suedweststaats ↩︎